- 31 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Die Inspiration war täglich neu, der Aufbau harmonisch, stets untadelig. Aber die Damen beschwerten sich, ebenso der Klerus: Dieses Manna der Wüste ließ die Zwiebeln Ägyptens vermissen, die ordinäre Grazie Lefébure-Welys, des Autors der »Klosterglocken«, des amüsantesten der Organisten. Die braven Leute hatten nicht ganz Unrecht. An den Tagen seiner nervösen Krisen und Migränen schloss sich der Nachfolger Lefébures in einer bedauernswert abstrakten Scholastik ein.

Als 1863 in der Kirche Saint-Sulpice in Paris Aristide Cavaillé-Coll die damals größte Orgel der Welt vollendet hatte, entließ man den bisherigen Organisten und übertrug Lefébure dieses Amt, das er bis zu seinem Tode am Sylvestertag 1869 innehatte. Dort gab er ein Antrittskonzert, dem u. a. Gioacchino Rossini beiwohnte. Das Programm zeigt das Bestreben, das Populäre mit dem Klassischen zu vereinen. Lefébure spielte die Fuge E-Dur aus dem 2. Teil des Wohltemperierten Klaviers, danach improvisierte er eine Gewitterszene.

Lefébures Orgelstil ist nicht denkbar ohne die Inspiration der Instrumente Cavaillé-Colls, die mit der durch die Barker-Maschine erleichterten Handhabung von Tasten, Koppeln und Registern, der üppigen Windversorgung und den orchestralen Ressourcen in Klangfarben und dynamischen Möglichkeiten die Voraussetzungen für einen »modernen« Orgelstil geschaffen haben. Vom Opus magnum Cavaillé-Colls in Saint-Sulpice ist das Hauptwerk Lefébures inspiriert, Der moderne Organist5

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L’Organiste moderne, Paris 1867, Neuausgabe, hg. v. Hermann J. Busch u. Ton van Eck, 4 Bde., 3. Aufl. St. Augustin 2001 (= Orgelmusik der französischen Romantik; Bd. 7–10).
, eine Sammlung von 34 Stücken in 12 Lieferungen. Der moderne Organist präsentiert sich hier mit Charakterstücken, die nach eigenem Zeugnis »aus den Improvisationen in Saint-Sulpice hervorgegangen« sind, also alle liturgische Verwendung finden konnten. Viele Stücke tragen Titel, die diese Funktion ausdrücklich benennen. Andere Stücke ohne solche Bezeichnungen lassen sich ebenfalls den liturgischen Funktionen der zeitgenössischen französischen Praxis zuordnen. Lefébures Pfarrer findet im Vorwort zur Druckausgabe geradezu enthusiastische Formulierungen für die Kunst seines Organisten: Paris, den 11. Juli 1867.

Mein Herr, ich habe das mir gewidmete Geschenk Ihrer Orgelstücke erhalten, die Sie mir so freundlich haben zukommen lassen. Dieses Geschenk hat mir ein zweifaches Vergnügen bereitet. Das eine Vergnügen besteht darin, dass ich glücklich bin, zu sehen, dass diese Stücke, die uns so oft entzückt haben, durch den Druck der Nachwelt erhalten bleiben und in der ganzen Welt verbreitet werden können. Ein weiteres Vergnügen ist es mir, dieses schöne Geschenk aus Ihren eigenen Händen zu empfangen. Ich gratuliere mir stets mehr und mehr dazu, unsere schöne Orgel in so guten Händen zu wissen. Das Instrument inspiriert den Künstler, und der Künstler macht dem Instrument Ehre. Erlauben Sie mir, mein Herr, die Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung.

Hamon. Pfarrer von Saint-Sulpice

In diesem Text eines Pfarrers über die Orgelmusik seines Organisten ist bezeichnenderweise mit keiner Silbe vom Gottesdienst oder von der geistlichen Bestimmung gottesdienstlicher Musik die Rede, sondern nur von dem Entzücken,


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