- 290 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Aber nicht nur die Quasi-Quintfallsequenz zu Beginn macht die Besonderheit der Form dieses Satzes aus. Die zentrale Idee des ersten Teils besteht nämlich darin, daß die drei Quintfälle cis-fis, fis-h, h-e des Themas nun im weiteren Verlauf durch modulatorische Bewegung in Quintschritten aufwärts wieder rückgängig gemacht werden, und zwar auf sehr eindringliche Art: jeder Formteilabschnitt vollzieht einen solchen Schritt: Takt 10–15 geht von E-Moll nach H-Moll, Takt 15–23 von H-Moll nach Fis-Moll und Takt 23–42 von Fis-Moll zurück zum Ausgangspunkt Cis-Moll. Akzeptiert man diese Idee als zentral, so lassen sich eine Reihe weiterer struktureller Sachverhalte der Komposition davon ableiten. Da ist zunächst das ästhetische Postulat, daß bei einer derartigen mehrfachen Wiederholung modulatorischer Beziehungen im Gegenzug die konkrete Ausführung der Modulation möglichst differenziert erfolgt. Der ans Thema sich anschließende Abschnitt ist denn auch recht komplex gestaltet88
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Eine einfühlsame harmonische Analyse der Modulation an dieser Stelle findet sich bei de la Motte, a. a. O. (s. Anm. 5), S. 159.
. Er nutzt den Sachverhalt aus, daß die Ausgangstonart Cis-Moll mit der Zieltonart des zweiten Abschnittes H-Moll stufenweise benachbart ist. Die von Beethoven gewählte Lösung besteht in einer chromatischen Interpolation: der Cis-Moll-Akkord in Grundstellung und Quintlage von Takt 5 und 7 steht in Beziehung zum C-Dur-Akkord der gleichen Umkehrungs- und Lagenform von Takt 12 und zum H-Moll-Klang mit denselben Parametern in Takt 13 bzw. 15. (Jedem dieser Akkorde geht zudem charakteristischerweise jeweils eine Dominante mit unterschiedlichen Umkehrungsformen voran.) Daß hier ein Dur-Akkord interpoliert wird, hat nicht nur mit der tonalen Ferne eines C-Moll-Akkordes in Cis-Moll zu tun, sondern fügt sich ein in eine weitere stückespezifische harmonische Eigenheit der Sonate: die zentrale Bedeutung, die dem neapolitanischen Sextakkord bzw. der Tiefalteration der II. Leiterstufe zukommt89
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Vgl. dazu Bernd Edelmann, a. a. O. (s. Anm. 76) sowie Roswitha Schlötterer-Traimer, Musik und musikalischer Satz. Ein Leitfaden zum Verstehen und Setzen von Musik. 1. Beschreibender Teil. 2. Arbeitsteil, Regensburg: Bosse 1991 (= bosse musik paperback; Bd. 45/1 u. 45/2), Teil 1, S. 39–42.
. (Der Neapolitaner von H-Moll hat bekanntlich die Tonhöhen eines C-Dur-Dreiklanges.)

Der nun folgende Abschnitt, der in Takt 15 in H-Moll beginnt, hat im zweiten bzw. dritten Teil des Satzes eine direkte Entsprechung: Takt 51 beginnt, wenn auch in Cis-Moll, auf genau die gleiche Weise. Dies erlaubt im Rahmen der Deutung der Form als Sonatensatz90

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Insbesondere wenn man – wie für die Anfänge der Wiener Klassik durchaus sinnvoll – diese Form eher über die Harmonikdisposition denn über die Gegensätzlichkeit der Thematik definiert.
hier von einem Seitensatz zu sprechen: als von einem Formabschnitt, der in der Exposition in einer andern als der Grundtonart steht und bei seiner Wiederholung in der Reprise dann in die Grundtonart zurückversetzt wird. Daß hier die Nicht-Tonika-Tonart H-Moll bzw. H-Dur ist und nicht die ansonsten in Mollstücken übliche Paralleltonart, also E-Dur, ist so fernliegend nicht. Ein Hauptsatzthema, das sich sofort nach E-Dur wendet, hätte gerade ein H-Dur als reguläre Seitensatztonart.


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