- 286 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Dur-Septakkord mit der lagenmäßig abwärtsgeführten Sopranstimme wird zunächst verdoppelt, und zwar durch seine oktavversetzte Wiederholung, doch, als sei damit noch nicht genug erweitert, folgt darauf ein neuer Akkord, der diese Linie auf drei Takte erweitert (die chromatischen Rückung von Takt 68 nach Takt 69 ff. läßt sich funktionsharmonisch als Hinzufügung einer tiefalterierten Quinte – f statt fis – bei gleichzeitiger Verwandlung des Grundtones h in die None c erklären, so daß aus dem Dominantseptakkord auf H der Dominantseptnonenakkord mit weggelassenem Grundton, kleiner None und tiefalterierter Quinte c-dis-f -a wird, der die enharmonische Umdeutung in c-es-f -a erfährt).

Alles in allem stellt sich die Verwendung von Quintfallsequenzen in diesem Brahmsschen Intermezzo nicht nur als ein Vorgang zunehmender motivisch-thematischer Verkomplizierung und zunehmender Erweiterung dar, auch entsprechen die Arten der Quintfallsequenzen mit ihrer Abstufung von tonal über real, zu gemischt tonal-real und schließlich real mit maximaler Chromatisierung im »ontogenetischen« Fortgang des Stückes gerade der »phylogenetische« Entwicklung der harmonischen Sprache im Verlauf ihrer Geschichte von Barock bis Romantik76

76
Vgl. auch Budde, a. a. O. (s. Anm. 53), S. 331, Anm. 7.
. Daß dies von einem so geschichtsbewußten Komponisten wie Brahms auch so gesehen wurde, ist äußerst wahrscheinlich. Man danke beispielsweise auch an jene bewußt in schlichtem C-Dur gehaltene tonale Quintfallsequenz über einem Orgelpunkt am Ende des zweiten Satzes seiner C-Dur-Sonate, der auf Variation eines Volksliedthemas basiert.

Ob hingegen bei Chopins C-Dur-Etüde ein solcher quasi ironischer, zumindest aber historisierender Verweis auf ältere Musik durch Verwendung einer realen Quintfallsequenz gemeint ist, ist weniger wahrscheinlich, auch wenn seine Etüden wegen ihrer gattungsbedingten Monomotivik gelegentlich insgesamt mit Barockmusik in Verbindung gebracht werden. Bach war für Chopin kein Komponist einer vergangenen Epoche, die es – ironisch gemeint oder nicht – wiederzubeleben gälte.

Auch ist der geringere Grad der Verkomplizierung der metrischen und harmonischen Verhältnisse, der das Chopin-Beispiel im Vergleich zu demjenigen von Brahms kennzeichnet, nicht unbedingt nur im Lichte einer Geschichtskonstruktion der zunehmenden Verdichtung und Komplizierung der musikalischen Sprache zu sehen, vielmehr spielen hier Gattungsunterschiede eine entscheidende Rolle: Zum einen ist es für Etüden erforderlich, Figuren in möglichst großer Zahl auftreten zu lassen, und zum anderen handelt es sich bei der Etüde mit ihren Figurensequenzen eben um Spielfiguren und nicht um Themen bzw. um thematische Bildungen im engeren Sinn. Daß Chopin in diesem Fall auch zu komplizierten Bildung in der Lage ist, zeigt etwa der Blick auf das Seitenthema der G-Moll-Ballade, das auf Quintfallsequenzen basiert, oder das E-Moll-


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