- 284 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Hierzu sind zwei Punkte anzumerken. Erstens: Sequenzierungen waren bisher solche mit Quintfällen im Baß (die auf eine sekundweise Abwärtssequenzierung der Taktpaare hinausliefen). Nun erfolgt erstmals im Zusammenhang mit dem Thema eine Sequenz, die zum einen aufwärts erfolgt und keine Quintfallsequenz72
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Der Grundtonschritt von Takt 61, 3. Achtel nach Takt 62 ist aber ein Quintschritt abwärts.
ist und zum andern einem Mischtypus angehört: die Sequenzierung des B-Moll-Sextakkordes vom Anfang des Taktes 61 nach Takt 63 ist weder tonal noch real, d. h. weder der Sextakkord der zweiten Stufe (es-ges-c)73
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Es wäre ja dann der vieldeutige, aber dominantische verminderte Dreiklang der Lösungsklang!
, noch ein Ces-Moll- oder C-Moll-Sextakkord, sondern wird als neapolitanischer Sextakkord, d. h. als Ces-Dur Sextakkord gestaltet. Der Sekundakkord der Dominante mit seinem Nachfolgeklang hingegen ist real sequenziert: Ges7/Ces in Takt 61/62 wird As7/Des in Takt 63/64. Allerdings gibt es eine minimale Abweichung: die neapolitanische Sexte des Sextakkordes der zweiten Stufe (das ces2 zum Beginn von Takt 63) würde mit dem c1, dem vorletzten Zweiunddreißigstel desselben Taktes, einen unangenehmen Querstand bilden, den Brahms dadurch vermeidet, daß er in Abweichung von der regulären Form es2-as1 - c1-es2 für das letzte Achtel dieses Taktes mit dem es2 zusammen ein c2 erklingen läßt, so daß der Querstand sich zum chromatischen Halbtonschritt entschärft – freilich um den Preis einer auffälligen Zutat: ein Zweiklang im Rahmen der sonst einstimmig gehaltenen Zweiunddreißigstelline.

Zweiter Punkt: nicht nur ist die Sequenzierung am »falschen Ort« – d. h. angewendet bereits auf den ersten Doppeltakt, statt erst danach mit einem eigenen Sequenzmodell zu beginnen –, das Sequenzmodell hat auch die doppelte Länge der nachfolgenden Sequenzmodelle. Da zudem die harmonische Funktion des Modellendes eine Höhersequenzierung der Funktion des Modellanfangs darstellt, erhält man am Ende der Sequenz einen Sextakkord der III. Stufe: einen Des-Dur-Akkord, also die Paralleltonart. Mithin werden also beim zweiten Auftreten des Themas in der Reprise beide für die Großform relevanten Tonarten nahezu unmittelbar, einzig durch einen Neapolitaner vermittelt, nebeneinander gestellt. Dieselbe direkte Gegenüberstellung der Tonarten B-Moll und Des-Dur erfolgt denn auch in der »Reprise« des »Seitensatzes« (Più Adagio, Takt 72 ff.) unmittelbar und mehrfach, wenn auch zunächst als B-Dur/Des-Dur-Opposition, um schließlich ab Takt 80, 3. Zählzeit in B-Moll zu enden.

An den geänderten und erweiterten Themenkopf schließt sich eine weitere Sequenz an, diesmal – wie zu erwarten – eine reale quintfällige. Die bereits angedeutete zu erwartende Potenzierung des Dominantisierungsprozesses löst Brahms in folgender Weise ein (siehe Notenbeispiel 9 auf der gegenüberliegenden Seite):


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