- 278 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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über den unteren Bereich der Tastatur entfaltet worden war, fügt Brahms den Ton Kontra-Es hinzu, so daß ein Akkord entsteht, der aus einer kleinen Terz, einer übermäßigen Sekunde und einer verminderten Quarte geschichtet ist, und somit – unter Absehung der enharmonischen Notierung – klanggleich mit dem berühmtesten Akkord seines Komponisten-Antipoden, dem Tristan-Akkord, ist. Der Vorhalt des wird schließlich aufgelöst ins c, so daß ein regulärer verminderter Septakkord entstehen könnte (a - c-es-ges), jedoch ist dieser Akkord um den Ton a verkürzt, also wieder in jener vieldeutbaren Gestalt wie zu Beginn des Stückes.

Diese vielfache Ausdehnung und Verschleierung der Dominantfunktion62

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Eben diese Stelle verwendet Hermann Grabner als Beispiel für eine »Verschleierung des funktionellen Verlaufes.« (Musikalische Werkbetrachtung, Lippstadt: Kistner & Siegel & Co 1957, S. 9). Er schreibt: »D u r c h ü b e r d e h n t e V o r h a l t e entstehen nicht selten S c h e i n k l ä n g e von überraschender Tonalitätsferne, wie folgendes Beispiel zeigt: Brahms, Intermezzo op. 117 Nr. 2. [Folgt Notenbeispiel Takt 7 (mit Auftakt) bis 10, 1. Achtel mit eingetragener funktioneller Deutung als Dominante (bis Takt 9 einschließlich) und Tonika (Takt 10) von B-Moll; Hervorhebungen im Original, H. K.] Das Überraschende in dieser Harmonik ist das plötzliche Auftreten eines scheinbaren ges-moll-Akkordes bei *. [Mit * ist der Beginn von Takt 8 gekennzeichnet; H. K.] Der H ö r e r , der das Klang b i l d richtig zu deuten weiß ist allerdings bald ,orientiert‘. Er erkennt, daß die Harmonie ihre rätselhafte Gestalt nur durch den überlangen Vorhalt des vor c bekommt [. . . ].« (A. a. O.)
ist eingebettet in eine motivische Arbeit, die der Beachtung wert ist, da sie jene Ausdehnung mitträgt, motiviert und stützt. Bis Takt 5 ist die Motivik der Oberstimme im wesentlichen eine Folge von zwei Achteln, die sich auftaktmäßig von der dritten Zählzeit auf die erste des folgenden erstrecken und zusätzlich jeweils mit einem Zweiunddreißigstelauftakt versehen sind, und zwar so, daß – bedingt durch eine Tonwiederholung – pro Phrase gewöhnlich nur drei statt vier verschiedene Tonhöhen vorkommen. Die zweite Zählzeit hat eine Pause, die von der erwähnten Figur – einer Intervallumkehrung der Figur der ersten in tiefer Lage – in der linken Hand gefüllt wird. Dieses Zweiachtel- bzw. Viertonmotiv wird in Takt 5 um ein weiteres Achtel erweitert, die Pause rückt nach hinten auf die dritte Zählzeit. Diese Erweiterung erscheint natürlich, ist doch die Folge des2 - c2 eine Fortsetzung der begonnenen Linie f 2-es2, der im Takt zuvor die Folge ges2 - f 2 voranging. Das auftaktige Motiv in Takt 5 wird in Takt 6 wiederholt, wobei das Auftaktachtel gestrichen wurde. Diese Abspaltung bewirkt, daß die Oberstimme von Takt 5 und 6 zwar identisch ist, aber jeweils unterschiedliche harmonische Deutungen erfährt (II. bzw. IV. Stufe versus V. Stufe). Der Schluß des Themas ist zugleich verschränkt mit dem Beginn seiner variierten Wiederholung63
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Bei einer Darstellung der Motivik, die mit den originalen Dauernwerten operieren soll, ergibt sich ein Problem: Die Spitzentonmelodie müßte korrekterweise als Auftaktzweiunddreißigstel, gefolgt von einer weiteren Note dieser Dauer sowie zwei Zweiunddreißigstelpausen notiert werden, um sodann ihren ersten Abschluß mit einem weiteren Auftaktzweiunddreißigtel, das zu einer abschließenden Achtelnote führt, zu finden. Zum einen ist das Stück als col Ped. zu spielen notiert, d. h. das zweite Zweiunddreißigstel erklingt für den Hörer mit der Dauer eines punktierten Sechzehntels, zum andern wäre die korrekte Notation zum umständlich, aber auch zu »luftig«. Entschließt man sich hingegen, wie im Notenbeispiel dann getan, die Phrasen ohne Pausen zu notieren, so ist es nicht ohne Gewaltsamkeit der Notierung möglich, die Gewichtsabstufungen zu realisieren, die darin bestehen, daß die jeweils erste Note eines Taktes in Takt 1 und 2 doppelbehalst und als manifestes Achtel erscheinen, im Sequenzteil Takt 3 bis 6 hingegen nicht. Für den Pianisten, der diese unterschiedlichen Gewichtungen der Dauern in einer anderen musikalischen Dimension realisieren kann, nämlich neben der zeitlichen Agogik auch in der Feindynamik, sieht die Sache anders aus.


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