über den unteren Bereich der Tastatur entfaltet worden war, fügt Brahms den
Ton
Kontra-Es hinzu, so daß ein Akkord entsteht, der aus einer kleinen Terz,
einer übermäßigen Sekunde und einer verminderten Quarte geschichtet ist, und
somit – unter Absehung der enharmonischen Notierung – klanggleich mit dem
berühmtesten Akkord seines Komponisten-Antipoden, dem Tristan-Akkord, ist. Der
Vorhalt
des wird schließlich aufgelöst ins
c, so daß ein regulärer verminderter
Septakkord entstehen könnte (
a - c-
es-
ges), jedoch ist dieser Akkord um den
Ton
a verkürzt, also wieder in jener vieldeutbaren Gestalt wie zu Beginn des
Stückes.
Diese vielfache Ausdehnung und Verschleierung der
Dominantfunktion62
Eben diese Stelle verwendet Hermann Grabner als Beispiel für eine »Verschleierung des
funktionellen Verlaufes.« (Musikalische Werkbetrachtung, Lippstadt: Kistner & Siegel & Co
1957, S. 9). Er schreibt: »D u r c h ü b e r d e h n t e V o r h a l t e entstehen nicht
selten S c h e i n k l ä n g e von überraschender Tonalitätsferne, wie folgendes Beispiel
zeigt: Brahms, Intermezzo op. 117 Nr. 2. [Folgt Notenbeispiel Takt 7 (mit Auftakt) bis 10,
1. Achtel mit eingetragener funktioneller Deutung als Dominante (bis Takt 9 einschließlich)
und Tonika (Takt 10) von B-Moll; Hervorhebungen im Original, H. K.] Das Überraschende
in dieser Harmonik ist das plötzliche Auftreten eines scheinbaren ges-moll-Akkordes bei *.
[Mit * ist der Beginn von Takt 8 gekennzeichnet; H. K.] Der H ö r e r , der das Klang b i
l d richtig zu deuten weiß ist allerdings bald ,orientiert‘. Er erkennt, daß die Harmonie ihre
rätselhafte Gestalt nur durch den überlangen Vorhalt des vor c bekommt [. . . ].« (A. a. O.)
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ist eingebettet in eine motivische Arbeit, die der Beachtung wert ist, da sie jene
Ausdehnung mitträgt, motiviert und stützt. Bis Takt 5 ist die Motivik der
Oberstimme im wesentlichen eine Folge von zwei Achteln, die sich auftaktmäßig
von der dritten Zählzeit auf die erste des folgenden erstrecken und zusätzlich
jeweils mit einem Zweiunddreißigstelauftakt versehen sind, und zwar so, daß –
bedingt durch eine Tonwiederholung – pro Phrase gewöhnlich nur drei statt vier
verschiedene Tonhöhen vorkommen. Die zweite Zählzeit hat eine Pause, die von der
erwähnten Figur – einer Intervallumkehrung der Figur der ersten in tiefer Lage –
in der linken Hand gefüllt wird. Dieses Zweiachtel- bzw. Viertonmotiv wird
in Takt 5 um ein weiteres Achtel erweitert, die Pause rückt nach hinten auf
die dritte Zählzeit. Diese Erweiterung erscheint natürlich, ist doch die Folge
des2 - c2 eine Fortsetzung der begonnenen Linie
f 2-
es2, der im Takt zuvor die
Folge
ges2 - f 2 voranging. Das auftaktige Motiv in Takt 5 wird in Takt
6 wiederholt, wobei das Auftaktachtel gestrichen wurde. Diese Abspaltung
bewirkt, daß die Oberstimme von Takt 5 und 6 zwar identisch ist, aber jeweils
unterschiedliche harmonische Deutungen erfährt (II. bzw. IV. Stufe versus V. Stufe). Der
Schluß des Themas ist zugleich verschränkt mit dem Beginn seiner variierten
Wiederholung
63
Bei einer Darstellung der Motivik, die mit den originalen Dauernwerten operieren soll, ergibt
sich ein Problem: Die Spitzentonmelodie müßte korrekterweise als Auftaktzweiunddreißigstel,
gefolgt von einer weiteren Note dieser Dauer sowie zwei Zweiunddreißigstelpausen notiert
werden, um sodann ihren ersten Abschluß mit einem weiteren Auftaktzweiunddreißigtel, das
zu einer abschließenden Achtelnote führt, zu finden. Zum einen ist das Stück als col Ped.
zu spielen notiert, d. h. das zweite Zweiunddreißigstel erklingt für den Hörer mit der Dauer
eines punktierten Sechzehntels, zum andern wäre die korrekte Notation zum umständlich,
aber auch zu »luftig«. Entschließt man sich hingegen, wie im Notenbeispiel dann getan, die
Phrasen ohne Pausen zu notieren, so ist es nicht ohne Gewaltsamkeit der Notierung möglich,
die Gewichtsabstufungen zu realisieren, die darin bestehen, daß die jeweils erste Note eines
Taktes in Takt 1 und 2 doppelbehalst und als manifestes Achtel erscheinen, im Sequenzteil
Takt 3 bis 6 hingegen nicht. Für den Pianisten, der diese unterschiedlichen Gewichtungen
der Dauern in einer anderen musikalischen Dimension realisieren kann, nämlich neben der
zeitlichen Agogik auch in der Feindynamik, sieht die Sache anders aus.
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