In dieser Grundform »löst« Brahms das genannte »Problem« dadurch, daß er
nicht wie Desmond den letzten, sondern ersten Akkord auf die »doppelte«
Länge verbreitet: auf die I. Stufe folgt nicht wie üblich unmittelbar die IV.
(gegebenenfalls mit vorbereiteter Sept durch Überbindung von der Terz der Tonika),
statt dessen wird der Sextakkord der I. Stufe zu einem Septakkord derselben
Stufe.
Dies heißt unter der gegebenen Ausgangslage zum einen, daß die Sept also sprungweise
eingeführt wird (der Sprung von der Quinte in die Septe hat als Gegenbewegung im Baß
den Sprung von der Terz in den Grundton), und zum andern, daß zwischen
den beiden obersten dieser Stimmen Quintparallelen entstehen, die aber im
wesentlichen ein Ergebnis des harmonischen Konstruktes sind: da die Akkorde
arpeggiert gespielt und zudem durch die Figur der linken Hand – eine lagenversetzte
Intervallumkehrung der Figur der rechten – unterbrochen werden, stören diese Quinten
nicht59
Vgl. dazu die Ausführungen zu Chopin weiter oben.
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.
(Ebenfalls mit der Figur der linken Hand hängen die Doppel- und die eingeklammerten
Noten zusammen: In Takt 1 und 2 fügen diese Figuren denen der rechten Hand keine
neuen, harmonisch relevanten Tonhöhen hinzu, während auf der ersten Zählzeit von
Takt 4 ff. die linke Hand mit dem zweiten Schlag die fehlenden Quinten der Septakkorde
nachreicht 60
Die Figur der linken Hand wird beim Übergang von Takt 1 nach 2 parallel zu der der rechten
lagenversetzt. Da die linke Hand aber ab Takt 3 mit ihrem jeweils ersten akkordeigenen
Ton zusätzliche Tonhöhen einbringt, wurden für Takt 1 und 2 Doppelnoten gewissermaßen
rückwirkend hinzugefügt. (Ob man dabei für die dritten Zählzeiten des Anfang als Ergänzung
zur Vierstimmigkeit den Baßton oder die Terz des Sextakkordes verdoppelt ist einerlei – im
einen Fall werden auch im Konstrukt Oktaven vermieden, im anderen wäre angedeutet, daß
hier bloße Dreistimmigkeit mit Oktavverstärkung vorliegt.)
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.
Da für die dritte Zählzeit ein solches Nachreichen durch die linke Hand nicht möglich
ist, wurde der unter der Annahme einer strengen Stimmigkeit fehlende Ton
ergänzt 61
Dennoch fehlt dem Septakkord auf der dritten Zählzeit die Quinte. Dies ist aber das übliche:
bei einer Quintfallsequenz mit Septakkorden ist jeder zweite Septakkord als unvollständiger
zu nehmen (vgl. die Regel Nr. 3 bei Grabner, a. a. O. [s. Anm. 5], S. 95; siehe auch Anm.
10).
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.)
Weit bedeutsamer als der ungewöhnliche Anfang der Sequenz sind die Abweichungen an
ihrem Ende. Brahms dehnt zunächst sowohl den Septakkord der II. Stufe wie auch den
der V. auf einen ganzen Takt aus, wobei er zugleich einen Lagenwechsel vornimmt und
beim Akkord der II. auch eine Umkehrung: dieser wird so zum Subdominantklang mit
der Sixte ajoutée, metrisch vorgezogen und damit schließend-kadenziell. Allerdings folgt
auf den Septakkord der V. Stufe nun nicht die Tonika, sondern eine weitere Ausdehnung
der Dominantfunktion: Takt 7 wird weiterhin von einem Dominantseptakkord bestritten,
auf den ein Klang folgt, der sich dem Hörer zunächst als vermollte VI. Stufe präsentiert
– er weiß ja nicht, daß dort nicht ges-heses-des steht, sondern ges-a-des –, sich dann
aber als Vorhaltsklang eines verminderten Septakkordes der VII. Stufe herausstellt:
erst nachdem einen ganzen Takt lang dieser »Pseudodreiklang« als Arpeggio
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