- 277 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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In dieser Grundform »löst« Brahms das genannte »Problem« dadurch, daß er nicht wie Desmond den letzten, sondern ersten Akkord auf die »doppelte« Länge verbreitet: auf die I. Stufe folgt nicht wie üblich unmittelbar die IV. (gegebenenfalls mit vorbereiteter Sept durch Überbindung von der Terz der Tonika), statt dessen wird der Sextakkord der I. Stufe zu einem Septakkord derselben Stufe.

Dies heißt unter der gegebenen Ausgangslage zum einen, daß die Sept also sprungweise eingeführt wird (der Sprung von der Quinte in die Septe hat als Gegenbewegung im Baß den Sprung von der Terz in den Grundton), und zum andern, daß zwischen den beiden obersten dieser Stimmen Quintparallelen entstehen, die aber im wesentlichen ein Ergebnis des harmonischen Konstruktes sind: da die Akkorde arpeggiert gespielt und zudem durch die Figur der linken Hand – eine lagenversetzte Intervallumkehrung der Figur der rechten – unterbrochen werden, stören diese Quinten nicht59

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Vgl. dazu die Ausführungen zu Chopin weiter oben.
. (Ebenfalls mit der Figur der linken Hand hängen die Doppel- und die eingeklammerten Noten zusammen: In Takt 1 und 2 fügen diese Figuren denen der rechten Hand keine neuen, harmonisch relevanten Tonhöhen hinzu, während auf der ersten Zählzeit von Takt 4 ff. die linke Hand mit dem zweiten Schlag die fehlenden Quinten der Septakkorde nachreicht60
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Die Figur der linken Hand wird beim Übergang von Takt 1 nach 2 parallel zu der der rechten lagenversetzt. Da die linke Hand aber ab Takt 3 mit ihrem jeweils ersten akkordeigenen Ton zusätzliche Tonhöhen einbringt, wurden für Takt 1 und 2 Doppelnoten gewissermaßen rückwirkend hinzugefügt. (Ob man dabei für die dritten Zählzeiten des Anfang als Ergänzung zur Vierstimmigkeit den Baßton oder die Terz des Sextakkordes verdoppelt ist einerlei – im einen Fall werden auch im Konstrukt Oktaven vermieden, im anderen wäre angedeutet, daß hier bloße Dreistimmigkeit mit Oktavverstärkung vorliegt.)
. Da für die dritte Zählzeit ein solches Nachreichen durch die linke Hand nicht möglich ist, wurde der unter der Annahme einer strengen Stimmigkeit fehlende Ton ergänzt61
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Dennoch fehlt dem Septakkord auf der dritten Zählzeit die Quinte. Dies ist aber das übliche: bei einer Quintfallsequenz mit Septakkorden ist jeder zweite Septakkord als unvollständiger zu nehmen (vgl. die Regel Nr. 3 bei Grabner, a. a. O. [s. Anm. 5], S. 95; siehe auch Anm. 10).
.)

Weit bedeutsamer als der ungewöhnliche Anfang der Sequenz sind die Abweichungen an ihrem Ende. Brahms dehnt zunächst sowohl den Septakkord der II. Stufe wie auch den der V. auf einen ganzen Takt aus, wobei er zugleich einen Lagenwechsel vornimmt und beim Akkord der II. auch eine Umkehrung: dieser wird so zum Subdominantklang mit der Sixte ajoutée, metrisch vorgezogen und damit schließend-kadenziell. Allerdings folgt auf den Septakkord der V. Stufe nun nicht die Tonika, sondern eine weitere Ausdehnung der Dominantfunktion: Takt 7 wird weiterhin von einem Dominantseptakkord bestritten, auf den ein Klang folgt, der sich dem Hörer zunächst als vermollte VI. Stufe präsentiert – er weiß ja nicht, daß dort nicht ges-heses-des steht, sondern ges-a-des –, sich dann aber als Vorhaltsklang eines verminderten Septakkordes der VII. Stufe herausstellt: erst nachdem einen ganzen Takt lang dieser »Pseudodreiklang« als Arpeggio


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