- 266 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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auf die metrische Gruppierung eine Verkomplizierung darstellt32
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Siegfried Hermelink eskamotiert in Notenbeispiel 3 seiner Studie Bemerkungen zum ersten Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier (in: Zum 70. Geburtstag von Joseph Müller-Blattau, hg. von Christoph-Hellmut Mahling, Kassel usw.: Bärenreiter 1966 [= Saarbrücker Studien zur Musikwissenschaft; Bd. 1], S. 115) diese Verkomplizierung hinweg, indem er Takt 12 nicht dem zweiten, sondern noch dem ersten Sequenzabschnitt zuschlägt. So erhält er eine regelmäßige 4 + 8 + 8 Gliederung anstelle der 4 + 7 + 8 Verhältnisse und kann zugleich einen doppelten Quartfall als Konstruktionsprinzip dingfest machen, wo die Harmonik eigentlich auf den Quartfall einen Quintfall folgen läßt.
. Der zweite Unterschied besteht in der Akkordmorphologie der Zwischendominanten – das eine Mal ein gewöhnlicher Sekundakkord der Wechseldominante (Takt 6), das andere (bzw. die beiden anderen) Male als verminderte Septakkorde, genauer: Quintsextakkorde (Takt 12 bzw. 14). Weniger der Umstand, daß Bach die Dominanten bei der Wiederholung im Hinblick auf dieses Detail unterschiedlich gestaltet, erregte das Interesse, vielmehr ist es der für die Oberstimme sich ergebene mehrfache Quintfall, genauer: die Quart-Quintfolge e2 - a2 - d2 - g2 - c2 beim ersten Auftreten. Zum einen läßt dieser Quintfall sich erklären aus der Not der Oktavparallelenvermeidung beim Übergang von der Frühestfassung zu den späteren Formen. Andererseits reizt diese Oberstimme dazu, sie als Antizipation des Fugenthemas zu begreifen und so zu erklären33
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So etwa Wilhelm Werker (Studien über Symmetrie im Bau der Fugen und die motivische Zusammengehörigkeit der Präludien und Fugen des »Wohltemperierten Klaviers« von Johann Sebastian Bach, Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1922 [= Abhandlung der Sächs. Staatl. Forschungsinstitute zu Leipzig. Forschungsinstitut für Musikwissenschaft; H. 3], S. 4). Die andere Erklärung, die das Zustandekommen der Quart/Quintschrittfolge aus der Parallelenvermeidung herleitet, hat ihre Stütze in einem analogen Vorgang um Takt 23: dort ändert, um einen echten parallelenfreien fünfstimmigen Satz zu erhalten, Bach sogar die Figurationsart (vgl. Kinzler, »Cela ne s’oublie ...«, a. a. O. [s. Anm. 15], S. 15 ff.; in der Abbildung S. 15 ist bei der Baßnote von Takt 23 vor dem kleinen a ein b-Vorzeichen nachzutragen). Vgl. auch Anm. 41.
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Chopin kehrt nach dem ersten Quintfallsequenzteil nicht wie Bach unmittelbar zur Ausgangstonart zurück, sondern setzt wiederholend – dem genannten Formgesetz gemäß variierend – das Wegschreiten von der Ausgangstonart fort. Von der erreichten Zwischentonart E-Dur wird zur kleinen Untermediante A-Dur weitergeschritten (kennzeichnend für das Erreichen einer neuen Zwischentonart ist – wie auch schon zuvor – das Auftreten des reinen Dreiklangs anstelle der Septakkorde). Im Unterschied zur ersten Quintfallsequenz, die zwar eine teilweise Chromatisierung erfuhr, im wesentlichen jedoch tonal war, ist die Quintfallsequenz der nun folgenden »Wiederholung« – die Takte 25–36 – jedoch real: auf E-Dur folgt A-Dur, D-Dur, G-Dur, C-dur, F-Dur und B-Dur. Letzterer Akkord, wie alle anderen zuvor auch als echter Dominantseptakkord (d. h. mit großer Terz und kleiner Septe) gestaltet, erfährt durch eine enharmonische Umdeutung der Septe as in ein gis eine Umlenkung in die neue Zwischentonika A-Dur. (Dieser »schräge« Ausstieg in Takt 33 f. nach Takt 35 f. ist durchaus in Analogie zu sehen zu jenem in Takt 21 f. nach Takt 23 f.: Takt 22 hätte ja noch notiert werden können als f - a-ces-es.)

In diesem zweiten Sequenzteil ließ sich Chopin eine Reihe von Verkomplizierungen einfallen, um jenem Eindruck des »Mechanischen« entgegenzuarbeiten, zu dem regelhaft gebaute Sequenzen bei so oftmaliger Wiederholung (wie hier


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