- 263 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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einer Form mit einer Reprise (allerdings in der Subdominanttonart) verlängert wurde, ist eher unwahrscheinlich – notwendig wäre es angesichts der selbstverständlichen Allgegenwart von Reprisenformen jedenfalls nicht.

Aber auch auf der Mikroformebene ist Wiederholung generierendes Prinzip. Die Eröffnungskadenz, bei Bach vier Takte umfassend, bildet einen ersten Formabschnitt. Bei Chopin wird die Eröffnungskadenz nicht nur – wie beim Vorbild – einmal geboten, sondern sogleich wiederholt – genauer: variiert wiederholt – und als 16taktige Periode gestaltet21

21
Eine Art graphische, an den Baumstrukturen der generativen Grammatiken orientiere Ableitung dieses Abschnittes bietet Kinzler, a. a. O. [s. Anm. 15], S. 20 (in der Zeile a ist in Takt 1 das a1 in ein g1 zu korrigieren). Überhaupt sind die folgenden Überlegung als Ausführung dessen anzusehen, was im eben genannten Aufsatz als »Fingerzeige« (1. bis 3.) angedeutet wurde (a. a. O., S. 21).
. (Daß daneben auch grundlegende Unterschiede in der musikalischen Denkweise bestehen, braucht wohl kaum unterstrichen zu werden: auffällig etwa der Unterschied zwischen einem kontrapunktisch entworfenen Verlauf der Außenstimmen der Eröffnungskadenz bei Bach22
22
Sowohl Ober- als auch Unterstimme bewegen sich stufenweise aus der Ausgangslage heraus und wieder in sie zurück, jedoch kontrapunktisch versetzt.
und der eher harmonisch-kadenziellen Konzeption des entsprechenden Teiles bei Chopin23
23
Bei Chopin ist der Baß – durchaus im Sinne des weiteren harmonischen Geschehens – durch fallende Quintschritte charakterisiert: Von c nach F in Takt 1/2 nach 3/4 und – als ansteigende Quarten – von D über G nach c in Takt 6–10.
.)

Bei Bach schließt sich an die Eröffnungskadenz sodann eine Fortsetzung an, die sich in den Bereich der Dominante bzw. der Dominanttonart bewegt24

24
Am Beispiel dieses Werkes wurde dem Verfasser klar, daß die Zuordnungen harmonischer Interpretationen zu musikalischen Strukturen durchaus interindividuelle Unterschiede aufweisen können. Der Verfasser hat als jemand, der nur über das relative Gehör verfügt, das Präludium stets in dem genannten Sinne als modulierend angesehen, bis ihm per Zufall eine Analyse unterkam, die für eine Giesbrechtsche Harmonielehreklausur verfertigt worden war und das Stück als nicht modulierend ansah (unter entsprechender Verwendung von Zwischendominanten). Zu vermuten ist, daß Absoluthörer wie die Jubilarin eher dazu tendieren, Modulationen zu vermeiden und statt dessen eher mit dem Konzept der erweiterten Tonalität zu arbeiten (das gälte auch für den Absoluthörer Schönberg und sein Konstrukt der harmonischen Regionen). Grammatisch gesprochen laufen diese Differenzen lediglich auf eine andere Art der Klammersetzung hinaus.
. Nach der I. (letzter Akkord der Eröffnungskadenz) und VI. Stufe (Sextakkord) geht es dann quintfallmäßig über die II. (alterierter Sekundakkord) zur V. Stufe (wiederum Sextakkord), um diese dann mit einer Kadenz zu befestigen. Bei Chopin hingegen erfolgt im Anschluß an die Eröffnungsperiode sogar eine »echte« Quintfallsequenz (Takt 15/16–23/24): I. Stufe, IV. (Quintsextakkord), VII. Stufe (Dreiklang mit Durchgang im Baß bzw. Dreiklang gefolgt vom Sekundakkord derselben Stufe), III. und VI. Stufe (mit den dem vorherigen Sequenzglied entsprechenden Umkehrungsformen). Die nun zu erwartende II. Stufe (als Quintsextakkord) ist von Chopin bereits umgeformt zum Ausstieg aus der Sequenz in eine kurzfristige Befestigung der großen Obermediante, d. h. der verdurten III. Stufe von C-Dur: Die Quinte der VI. Stufe, das e in Takt 20, wird nicht in den

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