- 175 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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In Portugal war 1910 die Republik proklamiert worden – daher das Stichwort im Bild.

»Dreibund« (etwa in der Bildmitte) meint das 1882 zwischen Deutschland, Österreich und Italien geschlossene Bündnis. Im Gegensatz zum geradezu kampfeslustig breitbeinig stehenden Deutschen sitzt der durch die Aufmachung als Franz Joseph II. charakterisierte Österreicher. Bereits bei der Verlängerung 1902 schloß aber Italien einen bündnisgefährenden »Rückversicherungsvertrag« mit Frankreich. Dennoch wurde der Dreibund 1912 nochmals erneuert. Italienische Artillerie schießt mit Schrapnells Richtung Afrika: wegen der italienischen Annexion von Tripolis und der Cyrenaika entstand ein bis 1912 dauernder Krieg mit der Türkei. Dabei wurde auch der Dodekanes in der Ägäis besetzt – ein weiterer Italiener sitzt auf »Griechenland«.

Der statisch merkwürdig sitzende Russe mit Säbel und Knute ist möglicherweise der reaktionäre Ministerpräsident Stolypin, der 1911 in Gegenwart des Zaren ermordet wurde; die explodierende Granate würde dann auch ihm gelten. Auch anderswo saßen die Mächte des Rückschritts nicht mehr fest im Sattel. Unter der Führung Sun Yat-Sens war in China eine bürgerliche Revolution erfolgreich; die Mandschu-Dynastie dankte ab und China wurde Republik. Andrerseits wurde 1910/11 die bürgerliche Revolution in Persien nach wechselvollem Geschick endgültig im Dezember 1911 besiegt.

Die Glückwunschkarte ist zeichnerisch karikaturistisch angelegt und ohne allzu große technisch-ästhetische Kunstfertigkeit ausgeführt. Der in ihr objektivierte politische Standpunkt ist nicht ganz eindeutig. Politik erscheint als Außenpolitik, und dabei vorwiegend als Mischung von Kanonenbootpolitik und Massenabschlachten. Das militärische Paradigma dominiert. Der dennoch glaubhafte Friedenswunsch wird freilich schon dadurch ziemlich relativiert, daß »der« Deutsche geradezu überdeutlich im Zentrum steht. Ein entgeisterter, ja entsetzter Nikolaus am linken Bildrand (vom Betrachtenden aus) sowie zwei Engelsköpfe, die aufzuschreien scheinen, reagieren auf all die Geschehnisse im Bild, und korrespondierend als Ritter-Äquivalent Tod und Teufel am rechten Rand: der Teufel grinst diabolisch, und der geflügelte Sensenmann mäht Fleisch, das wie Gras scheint, gerade in Afrika, aber, soweit sich die Köpfe zuordnen lassen, international gemeint.

Den dissonanten Ton zum ebenfalls mißtönenden internationalen »Konzert« liefern Glocken und Kanonen – die bekanntlich ineinander verwandelbar sind – als Friedens- und Kriegssymbole: Rechts oben zwei große Glocken und ein großes Kanonenrohr samt platzender Granate in comic-artiger Technik parallel zur Bilddiagonale; in der Mitte, ebenfalls parallel, zur andern Diagonale, noch ein Maschinengewehr bzw. eine Mitrailleuse, die Schrapnells verschießt. Die kriegerischen Instrumente haben also das Übergewicht; der Kanonendonner als Vorschein der Materialschlachten des kommenden Kriegs übertönt das Glockengetön. Angesichts der Weihnachts-Zuordnung ist zu vermuten, daß dieses noch nicht Sturmglocken meint sondern noch Friedensgeläute.


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