- 174 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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leuchtend gelbe, lorbeerumkränzte Sonne mit der roten Inschrift »1915« – kein sehr vielversprechender Sonnenaufgang bei solchem Hintergrund. Man neigt fast dazu, solche Düsternis für verdeckte (kritische) Absicht zu halten, bedenkt man die meisterhafte Miniatur der Dorfkirche im Hintergrund, die ihr Licht ganz flach über die Feldflur von rechts, also in kartographischer Perspektive deutlich von Osten her, erhält; das Grün als Komplementärfarbe macht den kleinen hellen heimatlichen Fleck in der Finsterheit umso leuchtender. Die sonstige Gestaltung wie die Stofflichkeit lassen freilich von Kritik nichts erkennen. Im Vordergrund, auf schwarzem Boden, kniet ein Ritter in voller Blechmontur, den Helm ab zum (anscheinend stummen) Gebet, neben sich eine Fahnenstange mit Schwarz-Weiß-Rot. (Der Ritter ist natürlich blond und bärtig.)

Klanglich läßt sich in diesem pars pro toto einer Feldmesse sowohl der Glockenklang da lontano von der Dorfkirche imaginieren wie, sozusagen aus dem Off, so etwas wie z. B. Ich bete an die Macht der Liebe; dergleichen west fort etwa bei provozierenden, programmatisch »feierlichen« Bundeswehrgelöbnissen oder ähnlichen post-pubertär verspäteten Initationsritualen. (Andre Länder, andre Sitten. Aber keine besseren, wie etwa der Gebets- und Flaggenkult schon im Schulsystem der USA zeigt.) Die Verbindung von Mittelalter-Mythologie und Materialschlacht, von Massenmord und pseudoindividualistischer Ritterromantik, von Sakralität und Materialschlacht-Massaker hat schon als besonders widerwärtig Karl Kraus etwa in Die letzten Tage der Menschheit sarkastisch behandelt.

Eine ganze politische Informations- bis Propagandaschrift in Bildform enthält ein bemerkenswerter Lichtdruck »Weihnachten 1911« (Abb. 54; siehe Abbildung S. 176). Der eigentliche Titel ist skeptisch: »Friede auf Erden?« (Schönberg hatte 1907 anläßlich ähnlicher Krisenzusammenballungen sein bis auf das Fragezeichen gleichnamiges Chorwerk nach C. F. Meyer komponiert.) Das Fragezeichen kehrt vergrößert im Atlantik wieder. Hauptthema sind Imperialismus/Kolonialismus.

Exakt im Schnittpunkt der beiden Bilddiagonalen steht der rechte Fuß des deutschen Michel: in Uniform, mit Gewehr und Pfeife, aber auch der Zipfelmütze; dazu ein Boot unter dem Arm, das u. a. auf den dümmlichen wilhelminischen »Panthersprung« verweist, zudem auf die Auseinandersetzungen um die Marinerüstung: der britische John Bull, in Marineuniform, hält nämlich gleich zwei Schiffe unter den Armen. Die Entsendung eines Kanonenboots nach Agadir führte 1911 zur Zweiten »Marokkokrise«. Sie wurde so beigelegt, daß das Deutsche Reich auf Einfluß in Marokko verzichtete, dafür einen Teil der französischen Kongo-Kolonien erhielt – daher beim Schiff links unten die Stichworte »Berlin / Kongo / Heimkehr«; »Kongo«, als wäre es nicht genug, auch noch neben dem Schiff des Michels sowie bei der Personifikation Frankreichs »Marokko«. Spanien hatte seinerseits 1904 mit Frankreich einen Marokko-Vertrag abgeschlossen.


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