- 171 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Sie selbst hat die vielfache Größe der Flaschen und Männer – also einmal mehr das altehrwürdige Verfahren der Bedeutungsperspektive, in der Größenverhältnisse den (sozialen) Rang abbilden. Es ist eine Magna Mater, in der noch jugendlichen Erscheinungsform etwa als Artemis oder Aphrodite.

Die Herren mit Frack und Zylinder auf jedem Flaschenflugzeug beziehen sich auf die Dame im Zentrum – bis auf einen. Denn der erste links im Hintergrund ist mit Festhalten und Steuern allein schon voll beschäftigt; vielleicht sagt er etwas – das ist aber nicht zu entziffern. Der zweite, links vorn, lüftet höflich grüßend den Zylinder. Der dritte, rechts in der Mitte, geht schon einiges weiter und offeriert ihr, der Drastik halber sehr überdimensioniert dargestellt, einen perlenbesetzten Ring. Der vierte und vorletzte, rechts hinten, riskiert mehr, zwar nicht vom Vermögen, aber vom Leben. Denn er kniet seitlich auf dem Flaschenflugzeug, haltlos, mit fliegenden Frackschößen und flehend zur Angebeten erhobenen Armen und Händen. Sie bleibt ungerührt, verharrt in freundlicher – ein Lächeln ist angedeutet – Flaubertscher impassibilité.

Eines der Seile oder Bänder bleibt ohne Flugkörper bzw. hat nur ein verborgenes unbekanntes Flugobjekt. Der fehlenden Flasche entspricht jener Herr, den die Zentraldame in der linken Hand hält; weniger anmutig wie die Gesamtkomposition als vielmehr fast angeekelt, mit spitzen Fingern am Hosenboden, so, als hätte jener vor Angst bereits in diese gemacht. Wie die Contenance, so ging auch der Zylinder bereits unauffindbar verloren; im Bild gibt es keine Spur davon. Abgesehen von dem Anfassen mit spitzen Fingern ist das die Ikonographie des Ogers, der hier nun freilich in weiblicher Gestalt anstelle des in der Regel männlich vorgestellten Menschenfressers erscheint. Es ist der Aspekt des »männermordenden« Vamp, eine Inkarnation männlicher Ängste und Lüste, bis hin zur Vagina dentata, verwandelt ins Ganze des »Weibes«.

Manifeste Hochschätzung und Unterwerfung haben freilich ihre etwas verdecktere Kehrseite. Die Frau herrscht, indem sie sich zum Objekt männlicher Begierden macht. Sie hält das Kettenkarussell in Schwung, indem sie den Drehzapfen bildet. Daß trotz der Vielschichtigkeit der Bilderfindung hierbei der Graphiker an jene Sirene dachte, die in der platonischen Fassung der Vorstellung von der Sphärenharmonie die Sphären in Gang hält, ist eher unwahrscheinlich.

Die Ambivalenz in den Geschlechterverhältnissen eines fin de siècle geht noch weiter. Einen nochmals anderen Sinn erhält die Karte, wenn wir den Adressatenbezug mitbedenken: die Karte aus Wien gilt einer Adressatin in Wien, einem Fräulein. Die Devotion hat also eine praktisch-pragmatische Dimension. Was nach Annahme der Unterwerfung folgen würde, ließe sich nur spekulativ ausmalen. Viel Gutes von solch sadomasochistisch getönter Erotik ist jedenfalls kaum zu erwarten.


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