- 170 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Bei Neujahrsglückwünschen 1915 (Abb. 76), einem namentlich ausgewiesenen Entwurf der Wiener Werkstätten, und zwar von einer Frau (Maria Likartz-Strauß), ist das gesamte Bild bis zum Rand bzw. sogar darüber hinaus – Haare wie Schuhe und Rock sind angeschnitten – von einer Frauenfigur erfüllt. Sie trägt einen grün und schwarzen, weiten Glockenrock mit großen Karos, abwechselnd mit grünen Streifen oder Blumen. Ein breiter schwarzer Spitzenrand bildet den unteren Abschluß; dazu eine eng anliegende Bolero-Jacke. In die dichten schwarzen Haare mit einer überlangen Stirnlocke ist etwas Rot hineingeflochten. Das alles erzeugt den Gesamteindruck einer spanischen bzw. andalusischen (Flamenco-)Tänzerin. Sie bleibt allerdings statuarisch: Ausstellung des – hier verhüllten – Körpers statt tänzerisch-theatralischer Vorstellung. Denn der Clou des Bilds ist weniger der exotistische Kolorit als vielmehr das Glücksschwein als sehr kleines Ferkelchen. Sie hält es so in dem hocherhobenen und abgewinkelten rechten Arm, daß es exakt der Gestik des Bizepsanspannens zeigt, das Ferkelchen damit als Organprojektion des besagten Bizeps wirkt. Body building ante letteram, eine muskulär starke Frau, zu der einem freilich auch der Schluß eines Witzes einfällt: »Hier hat’s, aber da fehlt’s.«

Neujahrsglückwünsche von 1899 (Abb. 62) zeigen in der Mitte eine brünette Dame, mit starker und stark dekolletierter Oberweite, dafür armlangen Handschuhen, die einen vergoldeten Rheinweinpokal zuprostend hochhält: »Hoch das Jahr 1900«. Sie gehört samt neckischen Schmetterlingsflügeln durch Kleidung wie Gestus eindeutig zu jener Sphäre, die seinerzeit nicht nur den Professor Rath Heinrich Manns unwiderstehlich anzog. (Aktuelle Typen wie die vielfachen Zusammensetzungen mit -»Luder«, ob »Boxen«-, »Party«-, »Teppich«- usw., durch Boulevardpresse und Fernsehen verbreitet, sind auch nicht besser, sondern nur weitaus vulgärer, dafür aber billiger und formell demokratisiert.) Kontrastierend dazu sehen wir links im Bild – ausgerechnet – eine Kirche mit hellerleuchteten Fenstern in einer schneereichen Winternacht, drei Kirchgänger auf dem Weg dahin, zwei bereits in der offnen Tür, die sich offensichtlich diesmal nicht für den Tingeltangel entschieden haben. Die Glocke schlägt 12 Uhr. Rechts, ebenfalls mit hellerleuchteten Fenstern, eine Art Schloß, zwei Rehe auf dem Weg davor, das große Gittertor geschlossen. Die Glocke auf dem Turm ist sichtlich nicht in Bewegung – ausnahmsweise (und fast rätselhafterweise) ist hier ein Klanggerät deutlich präsentiert, spielt aber gerade nicht.

Fast als femme fatale zeigt ein farbiger Lichtdruck mit Neujahrsglückwünschen 1912 (Abb. 68; siehe Abbildung S. 172) eine Dame, tief dekolletiert. Der tänzerische Schritt ist so intensiv, daß sich das lange Kleid einschließlich der Rüschen darunter weit ausbauscht, und an der andern Seite eng am Körper anliegt. Integriert in die tänzerische Bewegung schwingt sie an der rechten Hand vier Seile wie eine Marionettenspielerin und zugleich in der Art eines Kettenkarussells um sich selber herum. An den Seilen sind vier Sektflaschen befestigt. Propeller vorne und Lenkräder weisen sie als Flugzeuge aus; darauf sitzen Männer.


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