Damit war gleichzeitig der Boden für eine Wiedererweckung des gregorianischen Chorals
bereitet. In ihm hat das melodische Element besondere Gestaltungskraft und kommt in
vollendetem Maße zum Ausdruck. Die Choralmelodik konnte wieder in ihrer Eigenart
gehört und verstanden werden. Seither ist nun das Interesse für den Choral in stetem
Wachsen begriffen.
Indessen sind die theoretischen Mittel, mit denen eine solche von Grund aus anders
geartete Melodik erfaßt worden kann, im allgemeinen noch nicht der neuen
musikalischen Entwicklung angepaßt. Die Musiktheorie hat sich weithin noch nicht von
der Herrschaft der Harmonik befreit.
So wurde hier der Versuch einer gregorianischen Melodielehre unternommen, in der die
konstruktiven Kräfte, losgelöst von der Einstellung auf die Dur-Moll-Harmonik, in ihrer
Bedeutung für die Formwerdung aufgezeigt werden.
Daraus ergab sich auch notwendigerweise eine grundsätzlich anders geartete Methodik für
den Choral. Die für das Aufnehmen der harmonischen Musik geeignete Lehreinstellung
ist auf die reine Melodik nicht anwendbar.
So wurde auf die frühen methodischen Mittel auf die aretinischen Silben zurückgegriffen.
Mit ihnen können die Schwierigkeiten, die sich bei der Wiedergabe dieser Melodik zeigen,
in einfacher, dem Bewegungswillen der Gesänge entsprechender Weise bewältigt werden.
Ergebnisse der neueren Pädagogik wurden hinzugenommen, und so ergab sich ein
abgeschlossener Lehrgang, in den auch die gregorianische Rhythmik einbezogen
ist.
Bei diesem musikalisch-praktischen Aufbau verzichtet das Buch bewußt auf die
Anführung historischer und liturgischer Erkenntnisse und Zusammenhänge, zumal diese
in den wertvollen Büchern, die es über den Choral gibt erschöpfend festgelegt sind. Die
Auffassung der Rhythmik entspricht der Solesmenser Schule. Sie ist in den betreffenden
Kapiteln ausführlich behandelt.
Die im zweiten Teil gegebenen Anregungen für eine Choralbegleitung sind aus den im
ersten Teil dargelegten Erkenntnissen zu verstehen.
Das Buch ist in gemeinsamer Arbeit entstanden. Nur die den Spezialfächern der
Verfasser entsprechenden Gebiete wurden getrennt behandelt. So schrieb der Organist die
Choralbegleitungen, während die Methodik von der Musikpädagogin angelegt
wurde.
Für die Erlaubnis, die Solesmenser rhythmischen Zeichen zum Abdruck bringen zu
dürfen, sagen die Verfasser der Abtei Solesmes und dem Verlag Desclée ihren besten
Dank.
Am Feste Allerheiligen 1935.
P. Corbinian Gindele, Erzabtei Beuron,
Sr. Maria Frieda Loebenstein,
Immaculatahaus, Oranienburg.