- 148 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (147)Nächste Seite (149) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

sich noch zu mir – ich muß noch Briefe schreiben. – Die innere Festigkeit wirkte so mitreißend, daß unerwartete Kräfte gegeben wurden, die ein Dabeibleiben bis fast zuletzt ermöglichten, in einer Fassung, wie sie der ihren einzig würdig war. Unvergeßliche Stunden. Gespräche über die Kinder, die liebsten Menschen – Bestellungen, Aufträge, Verteilen kleiner Andenken, Adressen – alles in tiefer Ruhe und Klarheit. Immer wieder: ich bin ja so froh! Sie selbst schrieb noch ein paar wenige Briefe schrieb auch einen letzten Wunsch auf: daß man die Urne im Grabe der Eltern beisetzen möge. Nach dem Brief an den Bruder noch eine Erklärung für andere Stellen: »Da ich keine Kraft mehr fühle, den mir vorgeschriebenen Weg so plötzlich zu gehen, scheide ich als letzte eigene Willenshandlung freiwillig aus dem Leben. Das Mittel dazu habe ich mir von meiner letzten Auslandsreise mitgebracht, für den Fall höchster Not. Ich sterbe meiner Herkunft gemäß und in meiner Gesinnung als Deutsche und als Christin.« – Ein Herüberreichen – Ein Blick des Einverständnisses – gut so? Ja! – Weiter ging die Nacht, die unvergeßliche – Um 3 Uhr ein Abschied: Aufgaben wurden gestellt – Dank ausgesprochen – Ein Kuß, ein Händedruck. – Nach einer langen Weile noch ein leises Klopfen an der Tür – eine praktische Bitte – noch einmal ein Abschied, der allerletzte: jetzt gehe ich mich noch ein bißchen mit mir selber unterhalten – und mit dem lieben Gott. Und dann das Lied, von Graun komponiert, das ich so liebe. . . ”

Ein Händedruck – leise verschwand eine geliebte Gestalt, schon im Nachtgewand, durch die letzte Tür, aufrecht und still. – Zwei Stunden später: in einem Schlafwinkelchen brennt eine einsame Lampe – ein Mensch liegt dort im Bett, ganz ruhig und sanft, wie schlafend – eine Hand unter dem Kopf (auf dem vorher selbst vorbereiteten Kissen), die andere locker entspannt auf der Brust, der Kopf leicht zur Seite geneigt – die Lippen leise geöffnet entschlafen. –

Auf dem Tisch ein Zettel, bei allen anderen Briefen und Papieren – in der gleichen festen Handschrift: 4.15 Uhr.

Und am Bett auf einem Regal – in stiller Ordnung: ein Becher – darunter ein Heft mit der letzten Seite eines Vortrages, der selber einmal zum Ende der sehr geliebten und verehrten älteren Freundin gehalten worden war**– oben auf dem Regal, ganz dem letzten Lager zugewandt, ein Blütenstrauß, eine Postkarte mit der Pietá von Klimsch, ein altes Bild des Schweißtuches der Veronika von Correggio mit dem dornengekrönten Christus – und aufgeschlagen dazwischen das Gesangbuch – angestrichen das Lied

»Ich bin erlöst durch meines Mittlers Blut
. . . Ich bin erlöst.«

September 1942

* Das Gedicht Gottfried Kellers:

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!


Erste Seite (1) Vorherige Seite (147)Nächste Seite (149) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 148 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben