- 135 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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konnten die Kursteilnehmer bereits eine Messe singen, allerdings noch nicht alle Gesänge. Am 22. November, Fest der heiligen Cäcilia, sang der Chor die Messe vollständig, zur allgemeinen Erbauung der Gläubigen und Freude der Kursteilnehmer.

Lucy de Montfort Ivancko

Staatliche Inspektorin der Konservatorien im Staate São Paulo, Brasilien,

Musiklehrerin.

* * *

Ein kurzer Blick auf die musikpädagogische Situation in Brasilien kann die besonderen Schwierigkeiten andeuten, denen sich Paula Loebenstein gegenübersah. In diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere die Vermutung, es habe möglicherweise eine inhaltliche Verbindung zu Villa-Lobos bestanden, als ausgeschlossen.

Ähnlich der Entwicklung »nationaler Schulen« in Europa kam es mit einiger Verzögerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Südamerika zu einer Selbstbesinnung auf eigenständige musikalische Wurzeln. Der vorherrschende Einfluß der europäischen Romantik wurde zurückgedrängt. Einflußreichster Vordenker dieser Bewegung war in Brasilien Heitor Villa-Lobos (1887–1959). Dieser hatte schon zwischen 1905 und 1913 Expeditionen in das Amazonas-Gebiet durchgeführt um bei Eingeborenen und Bauern musikalische Materialien zu sammeln. (Vgl. in Europa Dvoøák, Bartók, Kodály, Sharp und andere!)

Nach seinem mehrjährigen Aufenthalt in Paris und internationaler Anerkennung als Komponist wandte sich Villa-Lobos ab 1932 der Musikerziehung zu. Er übernahm die Schulaufsicht für die musikalische und künstlerische Erziehung (Superintendência da Educação Musical e Artística – SEMA) im Bereich Rio de Janeiro. Ziel war es, die Qualität des Musikunterrichts zu fördern und eine (Massen-)Chorbewegung aufzubauen (orpheonic singing). Der Erfolg dieser Bewegung führte 1942 zur Gründung einer »Nationalen Schule für chorisches Singen«, die als Modellversuch dem Erziehungs- und Gesundheitsministerium unterstand und die Villa-Lobos bis zu seinem Tode leitete. Diese Institution war für alle Fragen der musikalischen Lehrerausbildung ebenso verantwortlich, wie für die Inspektion aller Chorinitiativen im Lande.

Der pädagogischen Arbeit von Villa-Lobos ist häufig ihre Nähe zur faschistischen Diktatur (Getulio Vargas) nachgesagt worden, in deren (auch nicht-musikalischen) Zielen er sich zumindest teilweise wiederfinden konnte und von der er jede Unterstützung erhielt. Dieses der Unbedarftheit des Künstlers zuzuschreiben wäre schon deswegen unangemessen, weil Villa-Lobos welterfahren genug war, um die Attribute von Diktaturen zu erkennen. (Er besuchte im gleichen Jahr sowohl die von dem nach Prag vertriebenen Leo Kestenberg initiierte 1. Konferenz der „Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung” [»ISME«], – bei der die deutsche Schulmusik fehlte –, wie auch das Deutschland des 3.


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