- 114 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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zielgerichtete Funktion; sie kann also weder absolut noch autonom sein – und politikfrei schon gar nicht.

Erst seit etwa 1930 zeigt sich in der sogenannten »engagierten Musik« eine Strömung, die dieser Doktrin entgegengetreten ist. Musik wird hier dezidiert funktionalisiert, sie steht im Einsatz für Agitation und Bewußtseinsbildung zur politischen Veränderung. Der Kampf gegen Krieg und Gewalt und für Frieden und Gerechtigkeit bildet eine tragende Säule der engagierten Musik. Zwei Hauptarten lassen sich hier erkennen: die Antikriegsmusik und die antifaschistische Musik, letztere setzt sich fort in Musik gegen andere Formen des Totalitarismus. Die Komponisten sehen ihre Aufgabe vorrangig in der Anklage. Zur Darstellung gelangt die Verderbnis des Krieges, die Grausamkeit totalitärer Gewalt und die Klage über Tod und Zerstörung. Schon in den dreißiger Jahren hatte sich bei deutschen Komponisten linker Orientierung eine Antikriegshaltung etabliert, so bei Hans Eisler und Karl Amadeus Hartmann, beide in der Emigration lebend9

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Hartmann lebte in der »inneren Emigration« in München.
. Auch die Vertreter der Zweiten Wiener Schule, die als Speerspitzen des Fortlebens einer absoluten Musik angeführt werden, haben sich »engagiert«: Arnold Schönbergs in weiten Kreisen bekannte Komposition Ein Überlebender aus Warschau ist zu nennen und seine Ode an Napoleon, eine Hitler-Persiflage. Alban Bergs Oper Wozzeck klagt die Unterdrückung sozial Schwacher an, nicht zufällig im Soldatenmilieu. Anton Webern dirigerte Arbeiter-Sinfoniekonzerte in Wien. Die Zahl von Kompositionen gegen den Krieg und für den Frieden, gegen Diktatur und für soziale Gerechtigkeit ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark angewachsen. 1957 opponierte Hans Werner Henze gegen die Atombombenversuche in Vertonungen von Worten Ingeborg Bachmanns. Um 1960 komponierte Benjamin Britten sein War Requiem, das nun auch von britischer Seite aus die Idee der Versöhnung propagiert. Im selben Jahr erschien Krzysztof Pendereckis Komposition Den Opfern von Hiroshima, die an den Atombombenabwurf 1945 erinnert. Luigi Nono hat in vielen zentralen Werken Diktatur, Krieg und Unterdrückung thematisiert. Bis heute ist die engagierte Musik angefeindet und wird von der etablierten Musikszene diskriminiert, die nachhaltig an Musikvorstellungen des 19. Jahrhunderts festhält. Musik ist nach wie vor die Gegenwelt zur Realität. Die Verknüpfung von Musik und Politik wird bis heute naserümpfend abgelehnt.

Aber auch an die Gattungen der absoluten Musik – an die Sinfonie vor allem – läßt sich die Frage stellen, ob sie implizit eine politische Botschaft enthalten. Möglicherweise tritt im musikalischen Material mittelbar die Wahrnehmung einer Krisenstimmung oder Bedrohung hervor. Ich habe in meiner Habilitationsschrift die Frage untersucht, ob in Gustav Mahlers Sechster Symphonie die Vorahnung des Ersten Weltkriegs und des anwachsenden Antisemitismus zu erkennen


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