- 98 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (97)Nächste Seite (99) Letzte Seite (456)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

für die Gestaltung der Lebensräume, der Lebensgenüsse, der Lebensrhythmen von Tages- und Jahreszeiten, für die Gestaltung des Zusammenlebens mit anderen. Das Gesamt solcher Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, die allein dem Menschen eigen sind, nennen wir Kultur. Musik ist nach diesem Lebensverständnis ein wesentliches Mittel und Merkmal eigengestalteter Kultur. Durch sie werden Emotionen gefördert und vertieft, Selbsterfahrung und Selbstbestätigung durch sinnvolle Leistungen und gestaltendes, rücksichtsvolles Handeln mit anderen ermöglicht. Dieser humane Lebenswert droht in einer schnellebigen Gesellschaft, deren Aktionen keine übergreifenden Sinn- und Lebenszusammenhänge erkennen lassen, verloren zu gehen. Vorherrschende Zielsetzungen in der Schule, in der Hochschule, im Berufsleben sind abfragbare Leistungen, die die Höhe des materiellen Lebensstandards sichern, Befähigung zur Konkurrenzfähigkeit, Spezialwissen und spezielle Fertigkeiten. Solche Qualifikationen erwirbt der heutige Mensch ohne Bezug zueinander und unverbunden nebeneinander. Eine sinnorientierte Intention von Studium und Arbeit wird durch eine Ideologie der Freizeit verdrängt, der sowohl Gewerkschaftsfunktionäre als auch Unterhaltungsindustrie folgen. Sie sagt: Nur soviel Leistung als nötig, um den Standard zu halten (in der Schule den Notendurchschnitt, im Betrieb den Stundenlohn) und viel Zeit zum Nichtstun zu haben.


Mit dem Abhandenkommen allgemein anerkannter Wertvorstellungen wie der des Humanen fehlen die Lebensorientierungen. Die mangelnden Wertorientierungen werden von immer mehr Mitbürgern bemerkt. Alt-Bundespräsident Roman Herzog zum Beispiel wird nicht müde, zum „Mut zur Erneuerung“ zu ermuntern, damit „der Bildungshorizont die Grenzen der Stellenbeschreibung überschreitet“. Kulturelle Erneuerung kann nicht durch Handeln von Politikern in Gang kommen. Man darf vom Staat nicht mehr erwarten, als er leisten kann, auch dann nicht, wenn einige Politiker(innen) den Eindruck erwecken, sie hätten die Lösungen für unsere Zukunft in der Hand. Politik kann Erneuerung zwar begünstigen oder behindern. Aber Staat und Demokratie leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen können. Das gilt insbesondere für Kultur in des Wortes breiter Bedeutung. Wer aber sind die Kultur-Schaffenden in der Postmoderne? Noch sind gestaltende Kräfte nicht zu erkennen. Bei den Diskussionen über die Auflösung von Orchestern hört man nur finanzielle Argumente. Gelegentlich wird auch die kulturelle Attraktivität einer Region für Ansiedlungen neuer Industrien ins Feld geführt. Dieses hat sich längst als Trugbild erwiesen. Die wirklichen Gründe, nämlich die radikale Veränderung des gesellschaftlichen Stellenwerts von Musik, wagen weder die Betroffenen noch die Entscheidungsträger zu nennen. Wieso ist Musikkultur heute nicht ihr Geld wert? Wem eine Sache etwas wert ist, der sucht auch nach Wegen, um sie bezahlen zu können. Bei einigen Projekten zur „Kulturförderung“ zeigt sich, daß Geld vorhanden ist. Warum nicht bei anderen? Was Roman Herzog im Hinblick auf die Bildung sagt, gilt in gleicher Weise für die Kultur: „Wir dürfen es den Finanzministern


Erste Seite (1) Vorherige Seite (97)Nächste Seite (99) Letzte Seite (456)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 98 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik