- 97 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Musik zum Wohlfühlen ist ein Stichwort für die Genußgesellschaft. Folgt man dem Trend, dann sind dazu die langsamen Sinfonie-Sätze besonders gut geeignet. Eine Musik-Fachzeitschrift publiziert: „Zu den pädagogisch wünschenswerten Aufgaben der Schule gehört es, Heranwachsenden Möglichkeiten zur Entspannung anzubieten. Der fachkompetente Einsatz von Musik kann dazu beitragen, sich zu entspannen. Die Musik dazu finden Sie auf 2 CD’s im Verlag [...].“


Ein exklusiver und kostenintensiver Mechanismus ist die Verbindung von Musik mit anderen Genüssen. Nicht nur Popmusik-Veranstalter versprechen rund um das Concert weitere Events. Auch die meisten Musical-Inszenierungen kommen über die Jahre nur durch Verbindung mit weiteren „Erlebnissen.“ Bestimmte Sänger und Solisten bekommt man kaum noch zu hören ohne Buchung von Hotel, Sekt-Frühstück oder Gala-Diner.


Diese Mechanismen suggerieren: Mit Musik allein kann der heutige Mensch nichts mehr anfangen. Die Folge ist ein vagabundierendes Musikinteresse. Der Musikvagabund will sich nirgendwo festlegen. In der Schule und Hochschule gibt er zu verstehen: Nur keine regelmäßige Teilnahme an Kursen oder Orchesterproben. Der Konzertbesucher sagt: Kein Abonnement, aber gelegentliche Highlights. Bitte kein Verhältnis zum Orchester vor Ort.


Der Vagabund könnte für die zukünftige Musikvermittlung eine interessante Erscheinung sein. Ein Vagabund ist einer, der sich umschaut. Wenn es gelingt – wie ich es durch Kinder- und Familienkonzerte versuche –, sein Interesse zu fesseln, sagt er: „Das war toll. Wann macht ihr sowas wieder?“ Oft kommen musikvagabundierende Erwachsene mit den Kindern wieder. Vielleicht werden sie heimisch. Damit ist ein zentrales Wort zum Kulturverhalten in der Postmoderne genannt. Wo kann der Mensch – nicht nur der Heranwachsende – heute kulturell heimisch werden? Wie soll er Toleranz entwickeln, wenn er keinen Standort entwickeln kann? Musik könnte dazu einen wichtigen Beitrag leisten, worauf zum Beispiel Yehudi Menuhin immer wieder hingewiesen hat. Sie bekäme anthropologische und gesellschaftspolitische Begründungen, die weit über ästhetische Legitimationsdiskussionen hinausreichen.



Der Lebenswert des Humanen


Die bürgerliche Musikkultur war getragen vom humanistischen Bildungsbegriff. Dieser ist nicht gleichzusetzen mit den Leitideen eines humanistischen Gymnasiums. Er reicht weit darüber hinaus. Seit der Zeit der griechischen Philosophen wird nach dem Leitbild des Humanen ein Leben verstanden, das nicht in der Sorge um den Lebensunterhalt und in alltäglichen Notwendigkeiten aufgeht. Humanes Leben ist ein Leben, das auch Zeit und Muße hat für die eigene Lebensgestaltung,


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