- 94 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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in den Papieren blättern und offensichtlich Hörhilfen suchen. Meistens haben sie Schwierigkeiten, weil das Licht nicht reicht oder das Lesen durch außergewöhnliche Drucktypen eines ehrgeizigen Veranstalters zusätzlich erschwert wird. Und bevor man die musikwissenschaftlichen Sentenzen verstanden hat – unsereiner weiß ja, wo sie in der Regel abgeschrieben werden –, ist das Konzert vorbei.


Die Produktion von Texten zu Konzerten und Opern ist mancherorts zu einem Ritual erstarrt. Das zeigt sich am deutlichsten bei Kinder- und Familienkonzerten. Manchmal sage ich einem Musikdramaturgen: „Sparen Sie sich die Zeit. Die Kinder können und wollen die Texte gar nicht lesen. Sie interessieren sich im Theater und im Konzert für andere Dinge. Zudem ist das Faltblatt eine hübsche Versuchung, Papiertauben zu falten und sie aus dem Rang hinunterfliegen zu lassen.“ Trotzdem: Beim nächsten Konzert werden abermals Handzettel verteilt.


Glücklicherweise gibt es neue Entwicklungen. Einige Rezensenten schreiben immer deutlicher über kulturpolitische, finanzielle und personenbedingte Rahmenbedingungen des Musiklebens in Deutschland. Damit gewinnen sie nicht nur Zustimmung; aber sie dienen der Zukunft der Musik in der komplexen modernen Gesellschaft. Immer häufiger tritt an die Stelle der schriftlichen Informationen die mündliche Einführung in Musik. Wenn es einem Musikdramaturgen gelingt, das Hörinteresse durch klingende Beispiele und durch einfache – nicht vereinfachende! – Sprache zu lenken, dann wächst zusehends der Zuspruch zu Einführungsveranstaltungen in Konzerte und Opern. Auch der sogenannte moderne Mensch wünscht sich Hilfen zum Musikverstehen. Man muß „nur“ den Horizont seines alltäglichen Musikgebrauchs berücksichtigen und die Lebensbedeutung von Musik erfahrbar machen. Dazu ist mancher „Künstler“ leider ungeeignet, der meint, er müsse „das Publikum zu sich heraufziehen“, wie es ein international bekannter, vielbeschäftigter deutscher Dirigent kürzlich in einem Interview formulierte. Es zeigt die Profilmerkmale, die ich unter dem fünften Aspekt skizziert habe.

Welche Aufgaben hat Musikwissenschaft heute? Musikwissenschaft hat ihre Legitimation, wenn sie durch das Studium der Musikgeschichte Fähigkeiten vermittelt, historische Fakten und Daten im Zusammenhang mit konkreter Musikerfahrung heute und als Hilfe zu ihrem Verstehen zu gebrauchen. Man muß nicht weniger Musikwissenschaft als früher studieren, man muß sie anders studieren, nämlich im Hinblick auf die gesellschaftliche Relevanz von Musik. Musikwissenschaft kann diese Fähigkeiten vermitteln, wenn wir das Interdependenzgefüge von Musikstrukturen, Einmaligkeit des Komponisten, soziokultureller und geistesgeschichtlicher Fakten, ästhetischer Ideen und Formwillen der Musikepochen so studieren und das historisch Gewordene so verstehen und darzustellen lernen, daß es heutige Menschen interessiert. Wir studieren Geschichte


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