- 93 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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extrem unterschiedlich. Ein Beispiel aus einer Lokalredaktion: „Wer immer schon wissen wollte, was eigentlich in einer Spielzeugschachtel vor sich geht, wenn man gerade nicht hineinschaut, der war beim zweiten Kinderkonzert des Philharmonischen Orchesters Lübeck genau richtig aufgehoben. Denn, wer hätte gedacht, daß die Puppen und Spielfiguren nachts zu tanzen beginnen, daß sich in einem Puppenkarton Liebestragödien abspielen, wie in Claude Debussys Ballett ‚Die Spielzeugschachtel‘? Mit viel Fantasie und Liebe zum Detail hatte sich die Ballettschule [...] des französischen Komponisten angenommen. Die tänzerischen Leistungen der sehr jungen Ballerina verdienen Respekt und nähren die Hoffnung auf ähnliche Ballettdarbietungen für die Zukunft“. – Der Lokalredakteur beschreibt das phantasievolle Zentrum der Musik Debussys einfühlsam. Er weiß sonst aber nichts von der Musik. Entsprechend bemerkt er nicht die Leistungen des Orchesters, das parallel zu den Tanzbewegungen optisch wahrnehmbar auf der Bühne spielte. Er berichtet nicht über die Hör-Wege, die der Moderator, das Orchester und der Dirigent in Zusammenspiel mit den Ballettkindern und der Ballettleiterin gingen, nichts über die Reaktionen des Publikums und über die Konzert-Atmosphäre. Der Lokalredakteur weiß wenig von der vielschichtigen (und zerbrechlichen) Musikkultur in seiner Stadt.


Das extreme Gegenstück markieren Rezensionen von Konzerten und Opernaufführungen in überregionalen Zeitungen. Ihr Feuilleton bietet Platz für ausgedehnte Texte. Da kann es geschehen, daß man zwei Spalten Texte durcharbeiten muß über das Phänomen „zwei Seelen in der Brust“ in der deutschen Geistesgeschichte, über das dualistische Prinzip in der Musik mit „männlichem Hauptthema“ und „weiblichem Seitenthema“ im Sonatenhauptsatz, über Robert Schumanns Selbstmystifikation zum Davidsbund, über den aggressiven Charakter des Florestan und den „introvertierten lyrisch-weichen Eusebius“. Erst ab Spalte drei erfährt der immer noch interessierte Leser, daß da ein Konzert war mit Maurizio Pollini, der Schumann spielte. – In anderen Fällen wundert man sich über den prallen Zettelkasten des Rezensenten, mit dessen Hilfe er den Leser über Konzerte, Darbietungen, Inszenierungen derselben Künstler im zurückliegenden Jahrzehnt an anderen Orten informiert. Offensichtlich soll über „Entwicklungen“ in der europäischen Musikkultur berichtet werden. Ich bekenne: Die meisten Entwicklungen erkenne ich als Leser nicht, zumal ich ja bei früheren Aufführungen nicht dabei sein konnte.


Ich frage: Welche Bedeutung hat Musik-Berichterstattung dieser Art für das heutige Musikleben? Wie viele Zeitgenossen haben Interesse, sie zu lesen? Wem dienen sie? Dieselben Fragen sind an Konzertprogramme und Opernhefte zu richten, die fleißige Musikwissenschaftler auf Glanzpapier produzieren. Dort findet man Arbeiten, die in einem musikwissenschaftlichen Oberseminar hohes Lob verdient hätten. Der Konzert- und Opernbesucher aber kauft sie kurz vor dem Konzert- oder Opernbeginn. Ich habe keine Zeit, die gescheiten Ausführungen zu lesen. Manchmal beobachte ich Menschen, die während des Konzerts


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