- 91 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Kontrast zu den Vorgängern. Durch derartige „Genie“-Streiche wird der Kern der Kultur zerstört, nämlich die Kontinuität. Sie ist das Wesen der geschichtlich gewordenen Lebenskultur. In einer schnellebigen Zeit ist sie notwendiger denn je. Den autonomen Orchesterleiter aber stört der Rückgang der Abonnentenzahlen kaum. Ihm ist es wichtiger, eine gute Presse zu haben, möglichst in überregionalen Zeitungen, denn das beeindruckt auch Mitglieder der Kulturausschüsse, die selbst nie ein Konzert besuchen.


Die Orchestermusiker, die ja das eigentliche Kontinuum vor Ort sind, werden bei allen diesen Vorgängen nicht gefragt. Der Orchestervorstand darf tätig werden, wenn arbeitsrechtliche Fragen anstehen. Im Hinblick auf die Programmgestaltung hat er keine Mitsprachemöglichkeit. Für einen Orchesterleiter, der den Glauben an die Autonomie der Kunst zu seinen persönlichen Vorteilen zu nutzen versteht, wäre ein engagierter Gestaltungswille des Orchesters nur hinderlich. Nach einigen Jahren wird er mit einem neuen Vertrag, bei dem er dieselben Versprechungen wie zuvor macht, an einem anderen Ort weitermachen.


Die hierarchischen Strukturen bestimmen sehr stark das Selbstverständnis der Musiker und die Arbeitsatmosphäre eines Orchesters. Die Reaktionen auf verweigerte Mitgestaltungsmöglichkeiten sind entsprechend den Persönlichkeitsstrukturen unterschiedlich. Die einen tun nur das Notwendige. Andere sagen: „Ich bin Künstler und spiele meinen Part im Orchester. Für andere Aufgaben bin ich nicht zuständig.“ Ein Beispiel: Ein Flötist antwortet auf meine Bitte, die Vogelmelodie aus Peter und der Wolf auf der Galerie zu spielen: „Aber nach dieser anstrengenden Konzertwoche können Sie doch nicht erwarten, daß ich diese schwierige Musik auch noch auswendig spiele.“ Für sein Selbstverständnis sind Kunst und Künstler identisch. Es fällt ihm gar nicht ein, daß er für andere musiziert, deren Steuergelder zudem sein Monatsgehalt garantieren.


Nach meiner Erfahrung sind aber die meisten Musiker bereit, sich auf Neues einzulassen, wenn die alltäglichen Abläufe des Musikbetriebs sich lockern. Das ist zum Beispiel bei Kinder- und Familienkonzerten der Fall. Am Anfang begegnet man in der Regel einer reservierten Haltung. Das ist verständlich, denn das Orchester muß sich in eine neue Rolle hineinfinden, nämlich nicht nur sich und das Musikwerk wichtig zu nehmen, sondern in gleicher Weise den Hörer. Wenn Kinder in einem Konzert herzhaft gelacht oder erstaunt gelauscht haben, dann verändert sich die Atmosphäre im Orchester. Es wächst das Verständnis, daß man sein Berufsleben auf die Hörer und nicht allein und zuerst auf die „Musik an sich“ und seine tradierte Individualität ausrichten muß.


Diese Einstellung ist besonders dann vonnöten, wenn bekannte Musikwerke wiederholt werden müssen. Peter und der Wolf von Sergej Prokofjew mag als Beispiel dienen. Das musikalische Märchen müßte alle drei bis vier Jahre für jede neue Kindergeneration gespielt werden, und zwar so oft, als Interessenten


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