- 90 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Jahrzehnte ihres Lebens als Tutti-Musiker. Auf die spezifischen Fähigkeiten, die dort verlangt werden, sind sie selten vorbereitet, noch weniger auf die seelischen Leistungen, die ein Tutti-Musiker erbringen muß.


Ich habe den Eindruck, daß dieses einer der Gründe ist, weshalb manche Orchestermusiker zeitlebens das Gefühl haben, sie seien eigentlich nicht am richtigen Platz. Das wurde früher oft durch die gesellschaftliche Anerkennung der Leistungen des ganzen Orchesters aufgefangen. Heute verbreitet sich immer mehr das Gefühl: Wir Orchestermusiker werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt.


In dieser Situation wäre schon manches gewonnen, wenn der Einzelunterricht viel stärker auf die Bedingungen des zukünftigen Berufslebens ausgerichtet würde. – Ich erlaube mir eine weitergehende Anregung. Wie wäre es, wenn sich an den Hochschulen neben den etablierten Hochschulorchestern Ensembles bildeten, in denen Studierende mit ihren Lehrern in eigener Verantwortung Konzerte planen, proben, moderieren und aufführen – jedoch nicht im herkömmlichen „Musikbetrieb“, sondern in Schulen, in Altenheimen, als Kinder- und Familienkonzerte? Dann würden sie gesellschaftliche Orte ihrer Musik nüchtern und – nicht selten – mit unerwarteter Zustimmung ihrer Hörer kennenlernen. Es bewahrt vor späteren Enttäuschungen, wenn die Interessen und die Hör-Einstellungen, die im Musikstudium stillschweigend vorausgesetzt werden, in der Mediengesellschaft immer seltener angetroffen werden.



Fünfter Aspekt: Die autonome Musik und das Selbstverständnis von Dirigenten und Orchestermusikern


Das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung nicht weniger Dirigenten ist – ideengeschichtlich betrachtet – ein Ausläufer des Geniekults des 19. Jahrhunderts. Sie vermitteln den Eindruck – oder aber das Publikum erwartet, daß man ihn vermittle: Diese Menschen sind besonders begabt, sie sind besondere Könner und Spezialisten in Sachen Musik. Sie sind die eigentlichen Gestalter und Interpreten von Musikwerken.


Die Realität sieht meistens anders aus. Ein neuer Chefdirigent beweist sein Selbstbewußtsein, indem er möglichst vieles neu und anders macht. Er entläßt Mitarbeiter seines Vorgängers und stellt „Jüngere“ ein. Das Layout der Programmhefte wird nach Größe, Farbe und Schrifttypen verändert. Auf jeden Fall ist der Dirigierstil individuell. Vor allem: Der neue Generalmusikdirektor verspricht ein außergewöhnliches Musik- und Opernprogramm. Dieses orientiert sich möglichst an der Anerkennung durch Verlage und Verbände, an Berichterstattungen in Rundfunk, Fernsehen und Presse. Daß es auch eine Erwartenshaltung der Bürger, eine örtliche „Tradition“ gibt, ist eher lästig. Wichtiger ist der


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