- 89 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Johann Sebastian Bach hat seinen Schülern von Anfang an ein musikalisch Ganzes zugemutet. Seine „Inventionen“ beginnen mit einem Einfall (inventio) von unverwechselbarer Gestalt. Daraus wird durch die Kraft der Kontrapunktik ein in sich geschlossenes Musikstück. Der Schüler nimmt, während er Klavierspielen „lernt“, an dem kompositorischen Prozeß teil. In diesem Zusammenhang lernt er Fingersatz, Anschlagtechniken, Phrasierungsmöglichkeiten, kurz: Fertigkeiten des Klavierspiels. – Béla Bartók nannte sein Werk, das demselben Ideal des Musiklernens folgt, Mikrokosmos. Er war wie auch Johann Sebastian Bach der Ansicht, daß man auf diesem Weg im Umgang mit dem Kleinen (Mikro) eine Ahnung bekommt vom ganzen Kosmos der Musik.


Im 19. Jahrhundert dachte man anders. Nach den Auffassungen einer rationalistischen Pädagogik erfanden Musiker, die auch Musiklehrer sein wollten, vokale Treffübungen für Sänger und Etüden für Instrumentalisten. Was man mit diesen „elementar“ übt, wird bei der Realisierung von Kunstwerken angewendet. Von hierher kommt es, daß auch heute noch Musiklernen mit der Aneignung von Spieltechniken gleichgesetzt wird. In der Spannung zwischen spieltechnischem Können und gestaltendem Musizieren unterliegt man nicht selten der Gefahr, das Niveau der Spieltechnik als Selbstzweck anzusetzen. So erfahren viele Kinder und Jugendliche, die motiviert beginnen, nie, was Musik für ihr Leben bedeuten kann.


Die Gleichsetzung von Musiklernen mit (möglichst vollkommener) Spieltechnik wirkt sich besonders bei Kindern kontraproduktiv aus. Wie lernt ein Achtjähriger das Geigenspiel? Gibt man seiner Neugier, seiner Experimentierfreude und seinem Gestaltungsdrang genügend Gelegenheiten, dann ist er darauf aus, ein musikalisch Ganzes zustande zu bringen. Bei diesen Versuchen helfen wir ihm, durch Differenzierung der Spieltechniken noch mehr und noch „schöner“ Musik zu machen. – Die meisten Musikstudenten werden in ihrem Berufsleben nicht nur im Orchester spielen. Sie werden auch Kinder unterrichten. Wann lernen sie, Kindern unter Berücksichtigung der Vorgaben der Natur zu helfen, daß sie sich an musikalischen Ganzen erfreuen können und dabei die musikalischen Elemente kennenlernen und spieltechnische Fähigkeiten gewinnen? Erst das Zusammenwirken dieser Faktoren vermittelt ein unverwechselbares Selbstwertgefühl.


Vierter Aspekt: Das Musikwerk als Ziel der Musikerausbildung


Die vorherrschende Ausrichtung des Musikstudiums am Musikwerk an sich verleitet dazu, die konkrete Zukunft des Lebens als Musiker außer Acht zu lassen. Die allermeisten Instrumentalisten werden – wenn der Arbeitsmarkt es ermöglicht – als Orchestermusiker und nicht als Solisten tätig sein. Sie haben gelernt, wie man Sonaten und Solo-Konzerte „beherrscht“ – und dann spielen sie


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