- 87 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (86)Nächste Seite (88) Letzte Seite (456)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

und Franz Liszt von Programmusik und (seit Michael Alt) in der Musikpädagogik von verbundener Musik. Es ist bezeichnend, daß die Kontroverse über absolute Musik und Programmusik in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand. So lange Kompositionen mehrheitlich an Texte gebunden sind, ist die Frage nach „absoluten“ Gesetzen der Musik, die allein gelten sollen, gegenstandslos. Erst der Primat der Instrumentalmusik seit der „Klassik“ drängt die Frage auf, wie diese zu „verstehen“ sei. Ein frühes Beispiel der Hörhilfe für ein bürgerliches Publikum ist das „Programm“, das Leopold Mozart seiner Musikalischen Schlittenfahrt 1756 beigab. Er empfahl dem Augsburger Collegium musicum, dieses zu „trucken“ und es vor dem Konzert zu verteilen.


Die Spannung zwischen Programmusik und absoluter Musik bestimmt seit den zwanziger Jahren bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts den geheimen Lehrplan des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen. Der Lehrplan für Gymnasien sah für das 5. bis 7. Schuljahr die Moldau und den Freischütz vor. Er forderte für die nächsten Schuljahre die „Behandlung“ von Sinfonie (Sonatenhauptsatzform), Suiten mit den (stilisierten) Tanzsätzen der Barockzeit. Und falls der Schüler am Musikunterricht in den letzten Jahren vor der „Reifeprüfung“ teilnahm, sollte er die Kunst der Fuge und den Ludus tonalis kennenlernen. Wenn man sich den Lernprozeß vom fünften bis zum dreizehnten Schuljahr idealtypisch vorstellt, sieht man den Weg vom volkstümlichen Hörer – der der Assoziations- und Verstehenshilfen der Programmusik bedarf – zum „gebildeten“ Hörer der absoluten Musik.


Auch im Musiklehrplan der Volksschulen schimmerte dieses Ideal durch. Zwar gab es die biographische Methode, die das Hören von Musik mit Lebenssituationen des Komponisten verbindet. Es gab und gibt daneben „Kleine Werke großer Meister“ – zum Beispiel in Bearbeitungen von barocker Cembalomusik für Blockflöten – und „Große Meister für kleine Hände“. Für die wenigen Musiklehrer an Volksschulen, die Hören von Musik als Aufgabe sahen, war es jedoch die beliebteste Methode, von der organischen Gestalt eines Volksliedes auszugehen und deren „Bearbeitung“ in der „absoluten“ Musik wiederzufinden. Deshalb waren und sind zum Beispiel die Variationssätze in Sinfonien von Joseph Haydn für das „einfache“ Musikhören so beliebt, denn man kann viele ihrer Melodien wie ein Volkslied singen.


Die Fragen über das Verhältnis von sogenannter absoluter Musik und Pro­grammusik sind angesichts der heutigen Lebenswirklichkeit gänzlich anders zu stellen. Im Medienzeitalter ist Musik – mit Ausnahme weniger exklusiver Situationen – immer mit anderen Vorgängen, Handlungen und Eindrücken verbunden. Die Prägung der Musikrezeption und des Musikgeschmacks durch Spots, Filme und Bilder kann jeder im Unterricht feststellen, wenn Musik ohne Kommentar eingespielt wird. Bald rufen Kinder „gleich reiten sie über die Prärie“, oder „gleich knallt’s“, oder „Sonnenuntergang, langweilig!“ oder „Bier aus reinem


Erste Seite (1) Vorherige Seite (86)Nächste Seite (88) Letzte Seite (456)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 87 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik