- 86 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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und sozialen Standes gleichermaßen als höchste Manifestation des Geistes erfahrbar sei. Für eine solche Musikphilosophie geht es in der Musik nicht nur um Kunstgenuß, sondern um die Erfahrung von Geist und „Entfaltung der Wahrheit“ (Hegel). Diese Philosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus, in der absoluten Musik spreche sich der Weltgeist selber aus, hat ihre Wirkungen bis heute.


Wenn das Kunstwerk autonom ist, dann ist der Künstler einer, der dem Kunstwerk dient. Ein Beispiel: 1972 sagte Arturo Benedetti Michelangeli aus „dispositionellen Gründen“ einen Klavierabend ab. Als er deswegen kritisiert wurde, schrieb der Dirigent Carlos Kleiber, er beharre darauf, daß der wahre Künstler nur der Kunst und seinem eigenen Perfektionsanspruch zu dienen habe. Diese Auffassung war ein Jahrhundert lang der Überbau, der sich über die Alltäglichkeiten des Musikstudiums, des Musikmachens und des Musikerberufes wölbte.


Die ideengeschichtliche Linie der Idee vom Kunstwerk, das aus sich selbst wirkt und in dem der Weltgeist erfahrbar sei, läßt sich in der Musikerziehung am deutlichsten in der Praxis der Landerziehungsheime ablesen, die nach dem ersten Weltkrieg als Antwort auf die Verstädterung des Lebens entstanden. Gustav Wynecken forderte, daß sich die Schüler jeden Abend versammeln sollten, um Musik von Bach und Beethoven ohne Kommentar und Erklärung zu hören, die von den Lehrern der Schule musiziert wurde. – Wenn man ausschließlich die Autonomie von Musik als Kunst betont, ist jede Musikpädagogik verdächtig, die glaubt, Hör-Wege in die Musik hinein erschließen zu können. Noch in den siebziger Jahren gab es heftige Proteste, als ich es „wagte“, mit Grundschulkindern Musik von J. S. Bach in Bewegung im Raum zu übertragen. Einige Kollegen argumentierten: Das Handeln zur Musik verhindert die „eigentliche“ Wirkung von „klassischer“ Musik.



Zweiter Aspekt: Absolute Musik kontra Programmusik


Die Auffassung von der absoluten Musik besagt, daß sie allein ihren eigenen Gesetzen gehorche. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hat Eduard Hanslick diese in den Satz gefaßt, der seitdem zum geflügelten Wort wurde: „Musik ist tönend bewegte Form.“ Die Absicht des Komponisten solle sein, allein nach formalen Kriterien Musik zu schaffen. Ich frage: Wer versteht, wenn man ausschließlich diesem Grundsatz folgt, Musik? Der, der sich beim Musizieren durch die Gesetzmäßigkeiten der Musik leiten läßt und der, der während des Hörens ihre Strukturen erkennt. Dieser wäre der verstehende Musikhörer und der wahre Musikkenner. Hand aufs Herz: Gibt es den?


Die Gegenposition sagt: Musik kann und darf auch Bezüge zu außermusikalischen Wirklichkeiten herstellen. In diesem Sinne sprechen wir seit Hector Berlioz


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