- 425 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Theodor Fontane beschreibt das Wesen des Bezirks Wedding im dritten Band der Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Havelland, wenn er zu Fuß von der Stadtmitte her zum Dorf Tegel und dem dort gelegenen Besitztum der Familie Humboldt zieht. Zunächst durchquert er die


Oranienburger Vorstadt, die sich, weite Strecken Landes bedeckend aus Bahnhöfen und Kasernen, aus Kirchhöfen und Eisengießereien zusammensetzt. Diese vier heterogenen Elemente drücken dem ganzen Stadtteil ihren Stempel auf; das Privathaus ist eigentlich nur insoweit gelitten, als es jenen vier Machthabern dient. Leichenzüge und Bataillone mit Sang und Klang folgen sich in raschem Wechsel oder begegnen einander; dazwischen gellt der Pfiff der Lokomotive, und über den Schloten und Schornsteinen weht die bekannte schwarze Fahne. Hier befinden sich neben der königlichen Eisengießerei, die großen Etablissements von Engels und Borsig, und während dem Vorübergehenden die endlose Menge der zugehörigen Bauten imponiert, verweilt er mit Staunen und Freude zugleich bei dem feinen Geschmack, bei dem Sinn für das Schöne, der es nicht verschmäht hat, hier in den Dienst des Nützlichen zu treten.

So zieht sich die Oranienburger Vorstadt bis zur Pankebrücke; jenseits derselben aber ändert sie Namen und Charakter. Der sogenannte „Wedding“ beginnt, und an die Stelle der Fülle, des Reichtums, des Unternehmungsgeistes treten die Bilder jener prosaischen Dürftigkeit, wie sie dem märkischen Sande ursprünglich eigen sind. Kunst, Wissenschaft, Bildung haben in diesem armen Lande einen schwereren Kampf gegen die widerstrebende Natur zu führen gehabt, als vielleicht irgendwo anders, und in gesteigerter Dankbarkeit gedenkt man jener Reihenfolge organisatorischer Fürsten, die seit anderthalb Jahrhunderten Land und Leute umgeschaffen, den Sumpf und den Sand in ein Fruchtland verwandelt und die Roheit und den Ungeschmack zu Sitte und Bildung herangezogen haben. Aber die alten, ursprünglichen Elemente leben noch überall, grenzen noch an die Neuzeit oder drängen sich in die Schöpfungen derselben ein, und wenige Punkte möchten sich hierlands finden, die so völlig dazu geeignet wären, den Unterschied zwischen dem Sonst und Jetzt, zwischen dem Ursprünglichen und dem Gewordenen zu zeigen, als die Stadtteile diesseits und jenseits des Panke=Flüßchens, das wir soeben überschritten haben.

Die Oranienburger Vorstadt in ihrer jetzigen Gestalt ist das Kind einer neuen Zeit und eines neuen Geistes; der „Wedding“ aber, der nun vor und neben uns liegt, ist noch im Einklang mit dem alten nationalen Bedürfnis, mit den bescheideneren Anforderungen einer früheren Epoche gebaut. Was auf fast eine halbe Meile hin diesen ganzen Stadtteil charakterisiert, das ist die völlige Abwesenheit alles dessen, was wohltut, was gefällt. In erschreckender Weise fehlt der Sinn für das Malerische. [...] Nützlichkeit und Nüchternheit herrschen souverän und nehmen der Erscheinung des Lebens allen Reiz und alle Farbe. Grün und gelb und rot wechseln die Häuser und liegen doch da wie eingetaucht in ein allgemeines, trostloses Grau. (Fontane 1872, S. 176–178.)


Zwanzig Jahre später hat sich das Grau erhalten und deckt nun auch die gewandelten Auswüchse der „neuen Zeit“ und des „neuen Geistes“, die zu wenig dekorativen Fabrikgebäuden und den ersten Massenquartieren für Fabrikarbeiter, den Mietskasernen, führten. Mit der Hauptstadtfunktion für das Deutsche Reich (1871) läßt sich ein explosives Anwachsen der Bevölkerungszahl feststellen:


Jahr Einwohner

1871 822.900

1880 1 119.800

1890 1 575.000

1900 1 864.400 (Spitzer/Zimm 1986, S. 50.)



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