- 423 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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öffentlicher Präsentation und Observation vorbehalten waren, die tägliche Praxis des Musikunterrichts im allgemeinen jedoch auf das Vorsingen-Nachsingen von Liedern und Chorälen reduziert blieb oder – im Sinne eines geheimen Lehrplans – andere musikalische Ziele verfolgt wurden.


Am Wirken und am Nachlaß von Friedrich Vogler läßt sich ablesen, daß sich ihm neben der eigentlichen Berufstätigkeit ein reiches kulturelles Leben eröffnete. Sein kirchen- und kammermusikalisches Wirken, die von ihm trotz eng begrenzter finanzieller Möglichkeiten nach und nach zusammengekaufte Musikliteratur, die vielen Biographien der verehrten Musiker und eine umfangreiche Sammlung Belletristik, unter der sich auch etliche Werke in französischer Sprache befanden, weisen darauf hin, daß die geistige „Emancipation“ und der zugehörige kritische Sachverstand, den der Gefolgsmann Stiehl zu unterdrücken suchte, sich Bahn brach und entwickeln konnte. Hinzu kommt, daß die vielfältigen Anregungen, welche die Hauptstadt Berlin für den kulturbeflissenen Bürger bereit hielt, ohne Zweifel zu dieser Entwicklung beigetragen haben, und daß das oftmals kolportierte Bild vom armen Dorfschulmeisterlein, das auch Ott für den Landschullehrer relativiert (Ott 1986, S. 468 ff.), für Stadtschullehrer jeweils nur sehr eingeschränkt gelten konnte.


Die restaurative Bildungspolitik, die einem vorindustriellen Sozialisationskonzept folgte, konnte im Zuge fortschreitender Industrialisierung und der damit verbundenen Machtverschiebungen im Staate nicht aufrecht erhalten bleiben. Eine Revision im Ausbau von Schul- und Hochschulwesen wurde dringend erforderlich. Herrlitz/Hopf/Titze beschreiben sie folgendermaßen:


Erst durch die Sammlungsbewegung zur Aussöhnung der großindustriellen und großagrarischen Fraktionen und zur Konsolidierung der herrschenden Klasse kam es im Vorfeld der offensiven imperialistischen Neuorientierung der Politik zu einem tragfähigen Kompromiß in der lange umstrittenen Berechtigungsfrage. Durch die formelle Gleichstellung der Technischen Hochschule mit den Universitäten (1899) und der Realgymnasien und Oberrealschulen mit den humanistischen Gymnasien (1900, schrittweise realisiert bis 1907) wurde eine Entwicklung ratifiziert, die den langfristigen Kontinuitätslinien des Bildungssystems entsprach und durch politische Gegensteuerung ohnehin nicht mehr aufzuhalten war, wie alle beteiligten Akteure (die Bürokratie und die verschiedenen Interessengruppen) gegen Ende der 90er-Jahre zunehmend erkannten. (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, S. 84; vgl. auch Blankertz 1982, S. 166 ff.)


Die hiermit verbundene Aufwertung und Förderung einer erfahrungsorientierten Bildung, die mit den Erfordernissen industrieller Produktion korrespondiert, beeinflußte die Lehrpläne der Volksschule insofern, als hier das Lesen-, Schreiben- und Rechnenkönnen verstärkt abgefragt wurde, um Produktionsabläufe in den Fabriken, zum Beispiel das Lesen von Gebrauchsanweisungen, die Aufnahme von Bestellungen, die Materialverwaltung, zu optimieren.



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