- 412 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Schon bei Johann Gottfried Herder (1744–1803) findet sich die Vorstellung, daß die Zeit der „eigentlichen Kirchenmusik“, mit der er die altitalienische Musik meinte, abgelöst worden sei und an ihre Stelle die „reine Herzensmusik“ getreten sei. Dieser Begriff, den der Protestant Herder der „Subjektivierung des Verhältnisses Gott – Mensch“ des Pietismus entnahm, zog weitere Postulate nach sich, etwa die nach ‚Erhabenheit‘, ‚Erbauung‘, ‚Sentiment‘, nach ‚Rührung des Gemüts und des Herzens‘. Mit den Einflüssen des „Sturm und Drang“ gewinnt die Subjektivierung der romantischen Bekenntnismusik schließlich noch eine weitere Dimension.


Für die Oratoriumskompositionen von Felix werden u. a. Einflüsse des Pietismus und der „Gefühlstheologie“ Friedrich D. E. Schleiermachers (1768–1834) verantwortlich gemacht. Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse darüber, ob dies auch auf Fanny zutrifft. Da sie aber in allen kompositorischen Fragen sehr eng mit Felix zusammenarbeitete und sich außerdem Schleiermacher unter den von Fanny aufgezählten Gästen im Hause Mendelssohn befindet, kannte sie ihn persönlich und war höchstwahrscheinlich mit den Grundideen seiner Theologie, möglicherweise auch mit seiner Theorie der Hermeneutik vertraut. Dagegen sind Einflüsse des Pietismus ziemlich sicher: Fannys Schwägerin Luise Hensel war eine fanatische Anhängerin dieser Richtung und ist uns heute noch präsent als Verfasserin des Liedes „So nimm denn meine Hände“.


Fanny hat in den Subjektivierungsprozeß ihrer Musik auch den Choral einbezogen. Ich habe dies am Beispiel des Lobgesang bereits erläutert. In der Choleramusik verknüpft sie den Choral „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (Nr. 7) mit dem vom Chor gesungenen Text: „Gott, unser Schild“. Der Choral als Träger individueller Stellungnahme setzt hier der kollektiven Hoffnung die persönlich empfundene Trauer entgegen.


In ihrem Klavierzyklus Das Jahr, den sie nach ihrer Italienreise am Ende des Jahres 1841 komponierte, finden wir drei Choralzitate. Der Zyklus, der jedem Monat eine Komposition widmet, zitiert in dem Stück „März“ den Choral „Christ ist erstanden“, im „Dezember“ den Choral „Vom Himmel hoch“ und in dem Nachspiel den Choral „Das alte Jahr vergangen ist“. Der Klavierzyklus, der vor allem die Italienreise erinnern sollte und als ‚musikalisches Tagebuch‘ aufzufassen ist, schließt den Choral als Ausdruck des persönlichen Bekenntnisses mit ein. Während ihres Aufenthaltes in Italien hatte Fanny – wie sie in ihren Tagebüchern schreibt – einerseits die Chance einer Art von Selbstbesinnung. Im Umgang und durch die Wertschätzung seitens der Künstler, die sie in Rom kennenlernte (allen voran Charles Gounod), wurde ihr künstlerisches Selbstvertrauen gestärkt. Andererseits wurde sie sich in der ihr bisher fremden Kultur Italiens ihrer eigenen kulturellen Position bewußt. In der Begegnung mit dem Katholizismus, in der kritischen Abwertung der altitalienischen Kirchenmusik und des unqualifizierten Gesangs der päpstlichen Kapelle; in dem spielerisch-ironischen


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