- 411 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Auffallend an der Textzusammenstellung ist die freie Auswahl biblischer Worte. Sie assoziieren zwar Bildhaftes (Oratorium nach Bildern der Bibel), sind aber im Kern Reflexionen, so daß die Rezitative nicht Träger von Handlung sind, sondern textlich den Leitgedanken des Oratoriums bilden (an der Textwahl hat sich zwischen den Geschwistern die oft diskutierte Frage der Vertonbarkeit von Sprache entzündet), wobei sie häufig die Funktion der Verkündigung übernehmen („Er wird dich mit seinen Fittichen decken“ oder: „Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen“), während die Chöre und Arien eher – im tradierten Sinne – die Träger individueller und kollektiver Betrachtungen und Stellungnahmen sind.


Die Orientierung der drei geistlichen Werke Fannys am Vorbild der großen Werke Bachs und Händels ist u. a. zurückzuführen auf ihre intime Kenntnis der Barockmusik. In ihrem Tagebuch vermerkt sie eine Beteiligung an der Einstudierung des Messias von Händel; im Jahre 1829 schreibt sie, daß sie eine Händel-Arie instrumentiert habe. Das Studium Bachscher Musik reicht – wie wir wissen – bis in ihre Kindheit zurück (mit 14 Jahren bereits beherrscht sie große Teile des WK auf dem Klavier); wird durch die in Berlin gepflegte Bachtradition gestärkt und kulminiert zweifellos in der mit Felix zusammen initiierten und durchgeführten Wiederaufführung der Matthäuspassion 1829.


Aber alle drei Werke gehen – in der beschriebenen Adaption opernästhetischer Elemente, in der Subjektivierung des musikalischen Ausdrucks, in der Auflösung strenger barocker Formen – weit über die Bindung an barocke Vorlagen hinaus. Vornehmlich die Choleramusik nimmt in eindrücklicher Weise das Deutsche Requiem op. 45 von Brahms, das 1868, also 37 Jahre nach dem Oratorium entstand, vorweg und bereitet einen neuen Typ geistlicher Musik, den der romantischen Bekenntnismusik, vor. Fanny weist also in vielen Facetten auf das hin, was sich bei Brahms als typisch romantisch bestätigt: die persönliche Betroffenheit als Auslöser der Komposition; die freie Wahl von Bibeltexten, wobei die Übereinstimmung des Textes im Trauerchor der Choleramusik die Ähnlichkeit mit dem des II. Chores im Requiem („Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen ...“) nicht zu übersehen ist; die Komposition einer Trauermusik (eigentlich ist Fannys Choleramusik einem Requiem sehr nahe); nicht zuletzt die Subjektivität des musikalischen Ausdrucks.


Das Deutsche Requiem von Brahms dokumentiert die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefestigte Überzeugung, daß Musik religiöse Inhalte vermitteln könne, und ließ eine außerkirchlich-religiöse Musik entstehen, die sowohl von der Individualität der Glaubensinhalte geprägt war als auch in außerkirchlichen Räumen zur Aufführung kam. So wird Brahms’ Deutsches Requiem zum Träger eines persönlichen Glaubensbekenntnisses, was sich u. a. auch in der freien Wahl und Zusammenstellung der Bibeltexte äußert. Die Wurzeln dieser romantischen Bekenntnismusik liegen in der Musikphilosophie der Vorromantik.


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