- 408 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Soloquartett steht der Chorsatz auf den Text „Leben und Wohltat hast Du an mir getan“ gegenüber.


Fanny gestaltet das Arioso dreiteilig, wobei sie den Mittelteil mit den Worten „Willst du wider ein fliegend Blatt ...“ einrahmt mit der Frage „Warum verbirgest Du Dein Antlitz?“ Das Arioso beginnt in c-Moll und hellt sich im Schlußakkord zum C-Dur-Akkord auf, der als Subdominante der folgenden Tonart G-Dur fungiert, in der der Schlußchor beginnt. Dieser vermittelt zwischen Arioso und Schlußchor und verwandelt zugleich: das Anfangsmotiv auf die Worte „Leben und Wohltat“, das identisch ist mit dem Motiv der Textstelle „Warum verbirgest Du Dein Antlitz?“, wird nun nicht aus der Mollterz, sondern aus einer Durterz gebildet. Der Schlußchor ist außerdem um ein wesentliches umfangreicher als das Arioso und mündet – nach einem sich ständig steigernden polyphonen Geflecht in die choralmäßig ausgeführten Schlußtakte auf die Worte „so weiß ich, daß du des gedenkest“. Fanny setzt hier mit der Ausdehnung des Schlußchores musikalische Akzente, die mit den sprachinhaltlichen identisch sind (über die Wehklage Hiobs dominieren Zuversicht und Hoffnung).


Die sprachliche und musikalische Polarisierung und Kontrastierung ist ein typisches musikdramatisches und -dramaturgisches Kompositionsmittel der Barockmusik und gehört zu dem Kompendium barocker Regeln, die ihre Wurzeln in der Rhetorik der griechischen Antike und des Humanismus und der Affektenlehre der französischen und italienischen Renaissance haben. Sie wurden sowohl in der geistlichen Musik als auch in der Oper verwendet.


Fanny kennt dieses und andere Kompositionsprinzipien aus ihrer Beschäftigung mit den großen Kantaten-, Oratoriums- und Passionswerken Bachs und Händels, trifft aber auch auf ein umfangreiches Repertoire von zeitgenössischen Oratorien, u. a. von mit ihr befreundeten Komponisten wie Ferdinand Ries, Ferdinand Hiller oder Adolph Bernhard Marx. Diese Fülle von Oratorienproduktionen wurde ausgelöst durch die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Chorbewegung, die sangesfreudige Laien in Singvereinen und Singakademien zusammenführte und eine entsprechende – leicht faßbare und leicht singbare – Chorliteratur erforderlich machte. Daß ausgerechnet das Oratorium beliebte Musikgattung für die Singakademien wurde, hing mit der Tatsache zusammen, daß sie ihrer ursprünglichen Funktion als Musik zum Gottesdienst enthoben worden und in die Konzerthäuser eingezogen war.


Übrigens muß Fanny die aufkommende Laienmusikbewegung sehr geschätzt haben. Sie entwirft selbst einen „Vorschlag zur Errichtung eines Dilettantenvereins für Instrumentalmusik“, in dem sie – ausgehend von der Klage über die unzulängliche Musikszene in Berlin – die Vorzüge solcher Laienmusiziergruppen zur Entwicklung musikalischen Geschmacks und musikalischer Bildung schildert


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