- 407 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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der Einsicht in die von aller menschlichen Vorstellung unabhängigen Gottheit hat den Weg bereitet zu dem von Christus bestimmten christlichen Glauben des Neuen Testaments, in dem die Erlösungstat des Sohnes Gottes dem menschlichen Leid eine völlig neue Dimension verleiht. So steht Hiob für den Zerfall des alten Welt- und Gottesbildes, nämlich des Glaubens an einen „Tun – Ergehen – Zusammenhang“ (vgl. Langenhorst), indem er die Gesetzesreligion aufbricht und die Erkenntnis wachsen läßt, daß Gott sich „als außerhalb des menschlichen Begreifens bezeugt“.12
12 Langenhorst, a. a. O., S. 40.

Das orthodoxe Judentum hat diesen Schritt nicht mitvollzogen. „Die (Hiobs)-Dichtung forderte nichts Geringeres als die Abkehr der Synagoge von ihrer Schicksalstheologie“ – so der protestantische Theologe Maag –,


und damit weitgehend von dem Existenzverständnis, das sich seit dem Exil immer kompakter verfestigt hatte. Dieser Forderung gegenüber gab es für die Synagoge nur die Alternative einer theologischen Neubesinnung im Geiste der Dichtung oder eine Ausschaltung der fordernden Stimme. Die Synagoge hat den zweiten Weg gewählt: Sie blieb bei ihrer Theologie [...] und zog gegen die (Hiobs-)-Dichtung zu Felde.13

13 A. a. O., S. 41 f.


So bleibt die Hiobsfigur für den jüdischen Gläubigen das „Urbild des leidenden Menschen in der Welt“, denn – so der jüdische Philosoph und Literaturwissenschaftler Maurice Friedman –:


Hiob spricht für den Menschen schlechthin, weil er für sich selbst spricht [...]. Sein Protest wird zum Protest gegen das Leiden aller Menschen. [...] In Hiob kristallisiert sich die Frage des Warum aller leidenden Menschen, er wird zum exemplarischen Jedermann, eben zum Urbild des leidenden Menschen in der Welt.14

14 A. a. O., S. 43.


In den ausgewählten Textstellen der Hiobskantate wird die Position Hiobs auf den klagenden und protestierenden Menschen fokussiert, ohne den im Sinne einer neuen Gottessicht gewandelten Hiob einzubeziehen.


Fanny hat nach der ausgedehnt auskomponierten Frage „Was ist ein Mensch, daß Du ihn groß achtest?“ die beiden Textzitate „Warum verbirgest Du Dein Antlitz“ und „Leben und Wohltat hast Du an mir getan ...“ inhaltlich und musikalisch polarisiert. Die Textausschnitte sind so angeordnet, daß sie einen inhaltlichen Kontrast bilden: gegen die Worte der absoluten Wehklage und Ohnmacht hebt sich der Text: „Leben und Wohltat hast Du an mir getan ...“ als Argumentationsvariante ab; Hiob will – im Gegensatz zur totalen Erniedrigungsklage „Was ist ein Mensch“ und „Warum verbirgest Du Dein Antlitz?“ Gott an die Wertigkeit seiner Schöpfung erinnern. Fanny vertont diese beiden Textstellen, indem sie sie auf zwei Nummern verteilt und sie unterschiedlich besetzt: Dem Arioso auf den Text „Warum verbirgest Du Dein Antlitz?“ in der Besetzung für


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