- 397 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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eine gute Frisur, die ihr gefällt, kriege ich ohne tägliches Duschen und Haarewaschen nicht hin. Kapiert meine Mutter natürlich nicht, aber wenn ich ihr das erzählen würde, dann würde sie bestimmt nur lachen. Wenn meine Mutter wüßte, wie doof sie mit ihrer 100-Mark-Dauerwelle aussieht, würde sie bestimmt nicht lachen. Wir waren neulich zusammen in der Stadt, sie wollte mir was kaufen – Schuhe und so. Aber als ich dann anfing ihr zu sagen, welche Schuhe ich wollte, hat sie mir tausend Sachen über die Qualität von Schuhen erzählt. Daß sie lange halten sollten und so weiter. Bei uns in der Klasse gibt’s ein paar, die sind total cool. In der Pause rauchen wir manchmal heimlich zusammen, wenn das einer rauskriegt, sind wir dran. Und die haben so Schuhe, die will ich auch haben. Wenn ich das meiner Mutter erzählen würde, hätte ich das Gefühl, ich rede mit einer Wand. Ich soll nicht so auf andere achten und meinem eigenen Geschmack nachgehen. Aber genau dabei steht sie mir ja voll im Wege. Na ja, auch egal. Dann hat sie mir auch neulich meine heißgeliebte Hose, die so richtig schön zerrissen war, wieder in mühevoller Kleinarbeit zusammengenäht. Auch das habe ich versucht zu erklären, auch daß ich in meine Jeans keine Bügelfalte möchte und so. Außerdem hat Tina gesagt, daß ich in der zerrissenen Hose voll gut aussehe... Obwohl, einmal hatte ich doch noch ein wenig Hoffnung. Sie erzählte, daß mein Vater, als er sie kennenlernte, nachts mit der Leiter in ihr Zimmer kam, weil das keiner mitkriegen sollte – ihre Eltern hätten sie sonst enterbt. Kam dann aber doch mal raus. Es war windig, der Boden matschig, die Leiter sehr wackelig, so daß er da runtergefallen ist. Riesen Theater und so. Heiraten durften sie dann aber trotzdem. Wenn ich eine Freundin hätte, dürfte die bestimmt auf nicht bei mir pennen. Also die ganze Leiteraktion noch mal. Da frag’ ich mich, wozu es denn Treppen überhaupt gibt.

Gestern z. B.: Es war ohnehin so ein mieser Regentag, ich mußte wieder in die Schule. Auf Mathe hatte ich keinen Bock, gibt ja sowieso Anschiß und so ein braves Spießergetue muß ich wirklich nicht haben. Jedenfalls kam dann so ein Typ vom Arbeitsamt, wollte uns beraten, was wir später mal machen sollten. Er erzählte, wie wichtig eine solide Grundlage ist und was man nicht alles tun muß, um in den gehobenen Beamtendienst zu kommen. Es mußte sich jeder anstellen, dann hatte man so 10 Minuten Zeit und konnte Fragen stellen. Hatte ich aber keine Lust zu. Wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich am liebsten mal in einer Band spielen würde, hätte der bestimmt nur gelacht, weil das wär’ ja nichts.

Die meisten Lehrer finde ich doof. Die einzige, die echt o. k. ist, unterrichtet Physik. Liegt mir eigentlich nicht so, hab aber bei ihr ganz gute Zahlen. Das Gute an ihr ist, daß sie nicht ganz so spießig ist. Sie hat erzählt, daß ihre ersten drei Schuljahre die schwersten waren – und das war die erste Klasse. Sie hat neulich mal so eine Geschichte in der Deutsch-Vertretungsstunde erzählt, daß es da so einen kleinen Jungen gab, der mit Feuer gespielt hat und die Bude abgebrannt ist. Der Grund für diese Tat war, daß seine Mutter sein Spielzeug, welches sie nicht als Spielzeug erkannte, weggeworfen hätte. Seine Spielzeugfamilie bestand nur aus einem Stock, das war der Vater, einem Lineal, das war die Mutter und einem Wollkneuel, das war das Kind. Darauf habe er, ohne es zu wollen, mit Feuer gespielt, weil sich das Feuer so schön bewegte und so schön warm war. Hat ihm dann aber keiner geglaubt und alle wollten monatelang wissen, warum er das getan hätte. Das hat mich beeindruckt. Ich glaube, daß sie mit ihren Kollegen nicht so gut klarkommt. Sie fährt nämlich immer nach der Schule gleich mit ihrem Käfer weg, ohne noch mal in das Lehrerzimmer zu gehen, außerdem war sie neulich unserer Klassenlehrerin gegenüber sehr unfreundlich. Sie hat sogar einmal „Scheiße!“ gesagt. Sie spielt ganz gut Saxophon, hat auch früher mal in einer Band gespielt. Das möchte ich auch mal machen. Ich hätte ihr neulich mal fast erzählt, daß ich auf diese Spießer und so keinen Bock mehr habe, daß ich abhauen will – sie hätte es bestimmt verstanden. Hab’ mich dann aber nicht getraut, ihr es zu sagen, weil sie vielleicht enttäuscht von mir gewesen wäre.

Neulich habe ich mir eine Platte gekauft, eine Stunde Ornett Colemann am Saxophon, super-gut, ich kenne inzwischen jeden Ton auswendig. Meine Mutter sagt dann immer, daß ihr diese „jugendliche Beatmusik“ zu laut ist, ich soll den Hifi-Turm leiser fahren, wenn mir das nicht paßt, kann ich ja ausziehen. Und so lange ich die Füße unter ihren Tisch stelle, hätte ich zu tun, was sie sagt. Als ich dann meinte, ich könnte sie ja auch auf den Tisch stellen, hatte ich eine hängen. Aber die Idee mit dem Ausziehen finde ich gar nicht schlecht. Die wird sich noch wundern...

Sie hat einen Bruder, also mein Onkel, der ist so ganz anders. Ich brauche gegen den Willen meiner Mutter auch nicht „Onkel“ zu sagen. Der ist noch ziemlich jung, macht irgendwas mit Büchern


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