- 396 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Manchmal fallen die von meinen Studenten erzählten Geschichten total aus dem Rahmen. Dann etwa, wenn Rainer Homann freihändig und ohne Manuskript am Beispiel der Entführung aus dem Serail erzählt, warum theatralische Situationen Musik zum Sprechen bringen kann, bringen muß. Oder dann, wenn Alexander Cvetko den kühnen Versuch unternimmt, in die Haut eines Udo Lindenberg zu schlüpfen, in den von damals und in den von heute, und mit unvorstellbar kühner Sprachhandhabung den neuralgischen Punkt einer Musik, einer Befindlichkeit, eines Zeitgeistes dadurch trifft, indem er monologisierend nicht nur die Auseinandersetzung mit Musik wagt, sondern zugleich seinen eigenen Standort mit durchschimmern läßt. Ein Lehrer, der so erzählen kann, dürfte seine Schüler aufs Äußerste zu fesseln verstehen. Ein Lehrer, der so formulieren kann, dürfte die Vision vermitteln, daß Musikunterricht immer auch etwas mit Poesie und mit Verzauberung zu tun haben könnte, sofern ... tja ... sofern man sie spürt, diese Lust. Die Lust, sich sprachlich auszudrücken ...


Die Welt kotzt mich an, ich habe einfach keinen Bock mehr. Ich weiß nicht, was das alles soll, ich weiß nicht wohin, so wie es ist, finde ich es Scheiße...

Diese Spießer regen mich auf – die haben doch überhaupt keine Ahnung vom Leben, sie kennen nur ihre Gesetze und Verbote. Wenn ich durch die Stadt gehe und sie alle sehe, muß ich weg. Am besten in eine andere Welt, wo alles anders ist. Warum muß ich den Hausmeister jeden Tag grüßen – diesen Idioten, dem sowieso nichts paßt. Hat wahrscheinlich noch nie gelebt, nie Spaß oder so gehabt.

Und wenn ich an meine Eltern denke, wird mir einfach nur schlecht. Mein Alter geht mir auf die Nerven. Manchmal glaube ich, er hat ein Buch für Verbote und Voll-Labern auswendig lernen müssen und sucht immer noch jemanden, der seine Hausaufgaben abhört. Er sagt immer, er meint es gut, es ist alles zu meinem Bestem und dieses Programm eben... Er sagt, daß es ihm nicht so gut gegangen wäre wie mir, ich doch ein viel besseres Leben hätte, sein Vater ist im Krieg gefallen —und schon wieder diese ganze Story. Ich soll was sinnvolles aus meinem Leben machen und so. Z. B. neulich: da meinte er, daß ich nicht so viel Fernsehen soll. Er sagte, es gebe so viel Sex und Gewalt im Fernsehen. Darauf sagte ich ihm, daß ich Gewalt auch nicht mag, daß der Film, den ich aber jetzt sehen will, nichts mit Sex zu tun hätte. An diesem Abend sollte ein guter Film laufen, alle haben in der Schule davon geredet, so ein Streifen mit Action und ein bißchen Krimi – aber sozialkritisch. Na ja, der Alte meinte, wenn das so ist, könnte er ja mal eine Ausnahme machen. Dummerweise muß er dann aber manchmal nachts auf Klo. Dieser ganze Film hatte nur eine einzige Sexszene, von etwa drei Minuten Länge, viel erkennen konnte man nicht. Aber ausgerechnet in diesen drei Minuten muß er nun durch das Wohnzimmer laufen, steht zufällig genau bei Beginn der drei Minuten hinter mir und geht nach den drei Minuten mit dem Kommentar: Darüber werden wir noch zu reden haben. Der hat Null Ahnung, und glauben tut der auch nichts. Aber neulich hat er ja mal richtig Eindruck auf mich gemacht, muß ich zugeben. Er hat erzählt, daß er als Kind auf Klavierunterricht nach zwei Jahren Quälerei einfach keinen Lust mehr hatte. Er hat einfach keinen andere Möglichkeit gesehen, als den Flügel, den Opa mit der vorzeitigen Auflösung seines Sparvertrages finanziert hatte, mit der Axt kleinzuhacken – die anschließende Prügelstrafe wäre ja noch erträglicher, als diese Etüden, von denen man Gicht kriegen würde.

Und dann meine Mutter: Da wird mir noch schlechter, weil sie es nämlich noch besser mit mir meint. Sie regt sich jeden Morgen darüber auf, daß ich jeden Tag dusche. Das wär’ wohl nicht gut für die Haut, das wär’ nicht gut für die Haare, da kriegt man Schuppen von, das ist nicht gut für die Umwelt und außerdem müssen wir sparen. Dabei haben sie sich neulich eine Wohnung gekauft, in der sie nicht mal wohnen. Sie meinten, sie müßten ihr Geld sinnvoll anlegen. Ja, aber vor einiger Zeit hat mich Tina mal angequatscht. Ich finde sie total süß – außerdem findet sie ihre Eltern und alles andere genauso dumm. Seitdem achte ich irgendwie darauf, ihr zu gefallen. Aber


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