- 393 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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nicht wieder erholen. Nach sechs Monaten folgt Felix 38jährig seiner Schwester und stirbt wie sie an den Folgen eines Gehirnschlags. Seine letzten Worte: „Ich sterbe wie Fanny“.


Totenstille im Seminar. Hier und dort feuchte Augen, der eine und die andere räuspern sich, schauen verlegen beiseite. Das ging unter die Haut, das fuhr in alle Poren ein, und selten hat eine Musik derart viel inneren Aufruhr gestiftet wie das Adagio aus dem f-Moll-Quartett op. 80 im Rahmen einer so eindringlich erzählten, so gefühlsbetont inszenierten Geschichte. Starker Toback, könnte man sagen, hart vorbei an der Gartenlaube. Indessen sind es die starken Erlebnisse, welche in ganz bestimmten Momenten und unter gewissen Vorzeichen den musikalischen Anker derart heftig und tief werfen, daß er ein ganzes Leben lang hängen bleibt. Und es sind solche starken Erlebnisse, die mich zweifeln machen an der vielzitierten Kraft des Faktischen. Nicht die Fakten rühren uns an, sondern jene Erzählstrukturen, die, wenn sie gelingen, den Zuhörenden in die Geschichte hineinsaugen, wie das dem Kino in besten Augenblicken gelingt, wenn wir als Betrachter uns auflösen und Teil dessen werden, was man uns angeblich nur vorführt. Das ließe einen Schritt weiterdenken, nämlich dorthin, wo Musikgeschichte zu besichtigen wäre als Fundus für Erzählbares. Für einen Joseph Haydn, der sich mächtig mit seinem Fürsten an- und querlegt. Für einen Johann Sebastian Bach, der als 62jähriger davon träumt, dem widerwärtigen Leipziger Kirchendienst entfliehen zu können und beim alten Fritzen unter Vertrag zu kommen. Für einen von der Ehefrau betrogenen Arnold Schönberg und dessen Trauerarbeit in der Erwartung. Für einen Robert Schumann, der die falsche Frau, den falschen Beruf und einen Job am falschen Ort hatte. Für einen Franz Schubert, den Wanderer ohne Woher und ohne Wohin (wie man diesen armen Teufel erzählen kann, führt Peter Härtling exemplarisch vor). Für einen zuerst von der Politik, dann von der Darmstädter Avantgarde zum Schweigen verurteilten Karl Amadeus Hartmann. Für einen Richard Wagner, der sich in gleich Dutzende von Geschichten auflösen ließe, und für einen Giuseppe Verdi, bei dem man mit einer einzigen zurecht käme. Komponisten waren seltsame Vögel, schrille Typen, unangepaßte Einzelgänger, Gesetzesbrecher, Leidensfiguren, rücksichtslose Karrieristen, hoffnungslose Loser, gottesfürchtig, weltverachtend, lebensfremd. Nicht, daß sie Stoffe böten für Geschichten – sie sind solche Stoffe par excellence.


Was geschieht, wenn man sich äußerst nahe heranbewegt an diese Gestalten? Zahlt man den Preis einer privaten Verkleinerung, einer persönlichen Verharmlosung? Ich denke, nein. Man entdeckt Sympathien, man verspürt loyale Empfindungen, man kuschelt sich solidarisch an. Nicht ausgeschlossen, daß es dann zu einem Sympathie- oder Solidaritäts-Transfer kommt, daß in der vermeintlichen Gewißheit, man kenne diese Person, ein Stück musikalisches Kennen bzw. Erkennen versteckt liegt. Wenn man denn schon (und das nicht nur als


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