- 392 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (391)Nächste Seite (393) Letzte Seite (456)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Wohin? Auf einen Zeltplatz, zu einem Lagerfeuer, zum Wettstreit der Ritter, Fräuleins, Zigeunerinnen, Krieger, Söldner und Schankwirte, zum Treffen der Liferollenspieler mit ihren schrägen Gesängen und noch schrägeren Riten. Katharina liest ihren verführerischen Text nicht nur, sie spielt ihn, sie singt die Lieder, zum Beispiel die Ballade von Karl dem Köhler. Spätestens dann sind wir alle mittendrin und heraus aus der Welt von Seminarstuben. Das studentische Publikum staunt, läßt sich einfangen, mitnehmen, verzaubern. Katharina hat es „gezwungen“, den Leuten zu folgen. So einfach ist das, soviel Macht über erwachsene Kinder hat, wer auf der narrativen Flöte zu spielen versteht.


Liebesgeschichten sind schöne Geschichten. Sarah Elles erzählt jene von Brahms und Clara Schumann, die eigentlich keine richtige ist. Einen Großteil der Briefe vernichtet, versenkt Clara im Rhein (wie melodramatisch!). Schade. Trotzdem gibt mehr als deutliche Hinweise, Brahms hat sich an Joachim eher ein- als zweideutig erklärt. Verdecktes Mutter-Sohn-Verhältnis? Liebe gegen alle herrschenden und einengenden Konventionen hinweg? Heiße Bettgeschichten der erfahrenen Frau mit dem keusch-naiven Jüngling? Viele Fragen, Stoff zur Anregung von allzu bereitwillig wuchernden Phantasien. Unstatthaft im Musikunterricht und an der Sache Musik vorbei? Paparazzi-Geraschel? Keine hundert Musiklehrer könnten das Interesse am Es-Dur-Nocturne heftiger entfachen als Maria Matrays und Answald Krügers Die Liebenden, darin zu lesen ist, wie die coole George Sand dem scheu-sensiblen Chopin eines Abends mit Haut und Haaren verfällt, als der mit schlanker Hand und streichelweichem Anschlag eben dieses Nocturne auf die Tasten zaubert. Liebesgeschichten zwischen Geschwistern, auch da schwebt vieles ungeklärt zwischen den Notenlinien der beiden Mendelssohns. Der Briefwechsel zwischen Fanny und Felix ist reich an Innigkeit, Zärtlichkeit, Zuneigung, außergewöhnlicher und hingebungsvoller Verschränkung. Das kann man erzählen, z. B. die Ehe von Fanny als Flucht zur rechten Zeit, bevor die Geschwisterliebe gefährlich wird und das schwatzhafte Gerede von Freunden und Verwandten, wann es denn nun zur Ehe zwischen Bruder und Schwester komme, ausartet. Zwei Leben mit einer Lebenslinie. Sie läuft auf ein seltsam gleichartiges Ende hinaus, auf jenen Schlaganfall, an dem zuerst Fanny, dann Felix sterben werden. Im Text wird die Nachricht vom Tode der Schwester dramatisch geschildert, es folgt das Adagio des f-Moll-Quartetts, komponiert auf ihren Tod ...


... Nach dem tödlichen Schlaganfall seiner Schwester ist Felix sechs Monate in tiefer Trauer. Er versucht, seine Arbeit fortzusetzen, versucht wieder zu komponieren und nimmt an allen Familiendingen teil, um sich abzulenken und Trost zu finden. Von Freunden und seiner Frau Cécile wird er als lustlos und melancholisch beschrieben. Es scheint, als ob Fannys Tod auch ein Stück seines Herzens mit sich gerissen hat. Er und Fanny waren nicht nur Bruder und Schwester. Musikalisch und geistig waren sie miteinander vereint, wie kaum jemals zwei menschliche Wesen zuvor. In ihrem Denken und Fühlen waren sie identische Wesen. Felix wird sich von diesem Schicksalsschlag


Erste Seite (1) Vorherige Seite (391)Nächste Seite (393) Letzte Seite (456)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 392 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik