- 390 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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besondere Musik, sondern zwingt den Komponisten, über sich selber zu sprechen. So kann man sich ausblenden, indem man das poetische Wort sprechen läßt und damit sich maskiert.


Anders die Hinführung auf das in jeder Hinsicht außergewöhnliche Kronos-Quartett von Martin Albrecht:


Habt Ihr ein Bild vom Vietnam-Krieg vor Augen, von den Kämpfen im Urwald des Mekong-Deltas? Ganz kurz ein paar Realitätsfetzen als Widerspiegelungen eines grausamen Krieges. Ein nacktes, schreiendes Mädchen auf der Straße, von den Medien um die Welt geschickt: brennend wird es von einer Napalm-Feuerwalze verfolgt. Verwundete Soldaten, Hubschraubergeknatter, Gewehrsalven, Hinrichtungen auf offener Straße [...]. Zweifelsohne hat dieser Krieg Amerika verändert, auch die Musikszene. Neben den vielen Protesten gibt es bis heute auch eine Vielzahl an musikalischen Verarbeitungen dieser Kriegsbilder.

Wir alle haben es gerade am eigenen Leib gespürt, diese schwülwarmen Sommernächte, brütende Hitze in der Bude, Mücken ... an ruhigen Schlaf ist kaum zu denken. Genau so muß sich im Sommer 1973 David Harrington gefühlt haben, und das ist der einzige Name, den Ihr Euch aus meiner Geschichte merken müßt. Dieser 22jährige Musikstudent aus Seattle liegt schlaflos auf seinem Bett, hört Radio und ... was er gerade hört, löst in seinem Kopf ein Gewitter aus. Es ist das Stück Black Angels von George Crumb, eine musikalische Antwort auf den Vietnam-Krieg, gespielt vom legendären New York-String Quartet. Eine Reise durch die Seele eines Vietnam-Soldaten. Sehen durch Hören! Diese Musik erzeugt auch in Davids Kopf einen Film mit unmißverständlichen Aussagen. Und genau in diesem Augenblick wird das Kronos-Quartett geboren, denn David will genau diese Musik in einem Quartett spielen. Die Suche nach geeigneten Partner für ein solches Unternehmen wird zunächst schwierig ...


Martin Albrecht wählt einen anderen Weg: er spricht sein Publikum an, er stellt die Genese einer weltweit bestaunten Idee in den Horizont von Zeitgeschichte; manche Musik und manche Musiker fallen eben nicht vom Himmel, sondern wachsen auf konfliktgedüngter Erde. Indem er im Präsens erzählt, entsteht aktuell vor den Augen der Zuhörenden, was tatsächlich einmal aktuell entstanden ist. Der Erzähler hat mehr in der Hand als ein Kameramann: er erzeugt die starken Bilder im Kopf, im Kopf des Hörers wie im Kopf des David Harrington. Und er kann, einfach das Werden und Entwickeln eines solchen Quartetts erzählend, schließlich plausibel machen, daß ein Kronos-Quartett ein Ensemble der anderen Art sein muß:


... Mit ihren jährlich über 100 Konzertauftritten versucht das Ensemble, den Zuhörern ein Spiegelbild ihrer selbst zu geben und nicht zuletzt auch mit der Musik zu experimentieren. Konzerte braucht dieses Ensemble zum Leben wie wir alle das Blut brauchen.

Die Konzert-Orte sind sorgfältig ausgewählt. Auf Jazz Festivals, auf Biker-Treffen zwischen Bierdosen und Urinlachen hat das Quartett bereits Millionen Menschen in seinen Bann gezogen. Denn was es auf der Bühne präsentiert, ist – wenn überhaupt vergleichbar – mit Sex zu vergleichen. David sagt selbst: „Unsere Musik ist so sexy wie keine andere. Sie kann seufzen, leidenschaftlich sein, aber auch wild“ ...


Andrea nimmt eine ähnliche Spiegelung der Künstlerpersönlichkeit im zeitgeschichtlichen Horizont vor in ihrem Beitrag „Prokofjew: Weltbürger und Sowjetbürger,


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