noch nie
haben mir ca. 30 Studierende so geräuschlos, so gespannt, so
wach und so aufmerksam zugehört wie bei dieser Geschichte, die
(das haben wir uns fürs Kommende notiert) mit der musikalischen
Kontrapunktierung nach gutem Feature-Rezept ins geradezu Absurde sich
entwickelte. Damit war das Grundmuster vorgegeben, damit war wohl
auch ein Stück weit studentische Phantasie angekurbelt, denn auf
dem Zettel werden folgende Themen vermerkt: „Die Jugendjahre
der Clara Wieck“, „Prokofjew – Weltbürger und
Sowjetbürger“, „Mozarts Requiem und kein
Ende“, „Was ist eine Musikdramaturgie?“, „Irish
Folk oder der Zauber der Musik“, „Ein lebendiger Traum
(Olivier Messiaen)“, „Das Kronos-Quartett“, „Hänsel
und Gretel“, „Musik in der Szene der
Liferollenspieler“, „Johanns Brahms und Clara Schumann –
eine große Liebe?“, „Johann und Johann Strauß“,
„Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk“, „Gregor
Piatigorski, Cellist“, „Franz Schuberts Winterreise“,
„Debussys Lehrjahre“, „Uraufführung von
Beethovens 9. Symphonie“, „Udo Lindenberg. Oder: er
wollte nach London“, „Erik Saties Parade“,
„Gordon ‚Sting‘ Sumner, Grundschullehrer“,
„‚Die Musik will gar nicht rutschen ohne Dich‘ –
Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy“, „The Story of the
Blues“, „Carl Orffs Carmina Burana“.
Unterm Strich sind 22 faszinierende Erzählungen entstanden. Kurzvorträge von ca. 15 bis 20 Minuten Dauer. Berichte. Momentaufnahmen. Persönliche Reflexionen. Intime Ausleuchtungen. Fiktive Dialoge. Erfundene Begegnungen z. B. wie die zwischen der Studentin Marina Löwen und Olivier Messiaen. Sie nennt ihre Geschichte einen „erfundenen Traum“, darin sie in einem Park unweit von Paris diesem Komponisten begegnet und sich mit ihm in eine Gespräch verwickelt über die musikalische Kraft der Vogelstimmen und darüber, wie er sich eine Widerspiegelung der Natur in Reveil des Oiseaux vorstellt:
... Ich habe sogar im Vorwort der Partitur Reveil des Oiseaux empfohlen, der Pianist möge einige Waldspaziergänge im Frühling, vor allem aber früh morgens machen, damit er seine Modelle kennenlernt. Die Menschen aus der Stadt stehen viel zu spät auf. Ich bin jeden Morgen um 4 Uhr hier und höre Musik. Ich hasse diese Stadt. Es ist ein Ort des Grauens und Entsetzens, ein gottferner Ort. Und gerade wegen der Gottferne hasse ich ihn am meisten. Ich bin ein überzeugter Christ und glaube, daß Gott überall anwesend ist. Gott ist im Himmel, in den Bergen, Bäumen, in Flüssen, einfach überall. Und wenn ich die Natur in meiner Musik besinge, dann besinge ich auch Gott. Mein Bestreben ist es, eine Musik zu schreiben, die alle Dinge berührt, ohne aber die Berührung mit Gott aufzugeben, deren Sprache uns einige Türen aufstößt und einige ferne Sterne herab holt. Bei diesen Worten hatte der Mann ein glückliches und zufriedenes Gesicht ...
Ein Komponist, der im Traum erscheint und in dieser Form einer Entrückung näher rückt? Warum nicht? So wird er zum Sprechen gebracht: in einer geheimnisumwitterten Situation um einer Musik willen, die selbst geheimnisvoll umsponnen ist. Ich denke, Marina Löwen hat eine adäquate Darstellung der Messiaenschen Musiksprache gefunden. Nicht als Lehrerin spricht sie über diese |