- 388 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Von den anderen Qualitäten brauche ich hier explizit nicht zu reden. Nicht vom Timbre einer erzählenden Stimme. Nicht von der Augen- und Händesprache. Nicht vom Lächeln oder vom Augenbrauenspiel bei entsprechenden Stellen. Nicht vom Wortwitz und auch nicht von der zugespitzten Formulierung. Nicht von den Bildern im Kopf, die um so gestaltkräftiger sind, je suggestiver die erzählende Sprache gehandhabt wird. Kurz: was eigentlich spricht gegen die Wiedergewinnung einer narrativen Kultur oder sagen wir bescheidener: einer narrativen Kunst im Unterricht? Bei Licht besehen rein gar nichts. Heute spricht eher manches stärker dafür als noch vor Jahren. Die Großeltern haben sich, im Winter zumal, nach Mallorca verkrümelt, alleinerziehende Mütter haben verständlicherweise für vieles kaum Zeit, am wenigsten fürs Geschichtenerzählen. Und was die alles vertretenden Medien anzubieten haben, das ist Comedy, Gameshow, Quiz, Analyse, Bericht, Sensation, Belanglosigkeit, Wetter, Kochrezepte, Monologe, Dialoge, Oberflächlichkeit, Talks an runden Tischen, das Abfilmen von Menschen, die aufs Klo gehen. Erzählungen finden in verwandter Form allenfalls in Spielfilmen statt mit ihren filmspezifischen Erzähl-Strukturen, in verstümmelter Form in TV-Serien.


Ein Plädoyer also für den Geschichten erzählenden Musiklehrer? Ja. Nur – welche Geschichten gilt es zu erzählen? Musikgeschichte? Kompositionsgeschichte? Rezeptionsgeschichte? Entstehungsgeschichte? Werkgeschichte? Histörchen? Anekdoten? Skandalgeschichten?


Bei so vielen offenen Fragen macht ein deutscher Professor das Nächstliegende: ein Seminar zum Thema „Lehrervortrag im Musikunterricht“ (SS 1999 Universität Osnabrück). Er skizziert in groben Zügen, was er sich vorstellt. Er erzählt von einem gewissen Dr. Karl Kraus. Er legt eine Liste aus für studentische Themenvorschläge. Er lehnt sich aus dem Fenster mit einer in Erzählform gehaltenen Momentaufnahme von Beethovens Krakeelereien um seinen Neffen Karl, darin er einen höchst widerwärtigen, krankhaft eifersüchtigen, pathologisch starrsinnigen, listig winkelzügigen, grob hinterhältigen, fahrlässig unpädagogischen und peinlich nachtragenden Ludwig van Beethoven skizziert mit den sattsam bekannten Folgen eines Selbstmordversuchs seines Neffen. Erzählt wird die Geschichte eines unglaublich kleinkarierten Lebensabschnitts, einer unvorstellbar engherzigen Kampagne, einer sittlich verwerflichen Folge von Maßnahmen gegen seine Schwägerin Johanna. Gespiegelt wird dieses „Bild“ durch ein anderes: durch das Streichquartett op. 135. Die zuhörenden Studenten sind fassungslos: das könne doch wohl nicht etwa d e r Beethoven sein? Das passe ja in kein Bild, das sei ja eher ekelig. Und doch habe eben jener solchermaßen ins Wanken gebrachte Beethoven andererseits eine Musik geschrieben, die gewissermaßen nicht von dieser Welt sei. Erste Erfahrung vor allen anderen:


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