- 387 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Der schrullige Lehrer mit dem klingenden Namen hat sich mir unauslöschlich eingeprägt; alle anderen Schulmeister – die knochig-strengen wie auch jene schulterklopfenden Kumpeltypen – sind spuren- und folgenlos in der Gedächtnislandschaft versandet. Dieser Dr. Kraus hat – ich wage das nicht zu entscheiden – entweder ultramodernen oder stinkkonservativen Unterricht gemacht, indem er nicht nur Geschichten erzählt und uns auf unseren Stühlen zum Stillsitzen und Zuhören gebannt hat, sondern indem er viel von der Kunst des Erzählens verstand, vielleicht weil er selbst als damals schon Sechzigjähriger noch aus einer Tradion der mündlichen Überlieferung kam und noch viel narrativen Staub an seinen Schuhen hatte. Zu dieser seiner Erzählkunst gehörte, was noch noch heute wichtig ist (sei’s in einem Fernseh-Magazinbeitrag, sei’s in einem Essay, sei’s im Radio-Feature): daß man auf ein Ende hin erzählen, daß man mithin bedenken muß, daß Zuhörende wissen wollen, wie die Geschichte wohl ausgehen mag. Das stiftet eine Spannung, der sich niemand entziehen kann. Das schafft zugleich Vertrauen in jene Geschichten erzählende Person: ein Vertrauen darauf, daß jene Bescheid wisse, daß jene den Überblick habe, daß jene in der Bedeutung eben dieser Geschichte kundig sei. Man mag es ein Urvertrauen nennen, das da entsteht, denn wenn Menschen sich bereit erklären, einem anderen Menschen zuzuhören, geben sie sich jenem in die Hand und lassen sich – wir dürfen getrost im Bilde bleiben – willig durch Fabellandschaften führen. In keinem anderen Moment entsteht dann ein so gesundes pädagogisches Gefälle zwischen dem Bescheidwissenden, Erzählenden hier und dem Zuhörenden, Vernehmenden, Geführten dort. Wem hören wir zu, auch wir, die Erwachsenen? Dem Weitgereisten. Dem handwerklich Erfahrenen. Dem in stürmischer Ehe Erprobten. Dem technologisch Kompetenten. Dem künstlerisch Versierten. Kaum ein Musiklehrer, der nicht die Erfahrung macht, daß in der 5-Minutenpause, wo er schnell nochmal das As-Dur-Impromptu von Schubert für die kommende Stunde durchfingert, sich um den Flügel herum eine Handvoll Schüler gruppiert, stumm zuhört und nach dem letzten Ton wieder davonschleicht mit der Gewißheit: „Der kann’s, ich hab’s gerade gehört. Mann, der hat’s vielleicht drauf!“ Bereit sein, zuzuhören, ist gleichsinnig mit der Bereitschaft zur Anerkennung, zur Wertschätzung, zur Hochachtung, manchmal auch zur Dankbarkeit. Zur Öffnung auch, denn Zuhören darf man, man muß es nicht. Auch muß man nichts wiedergeben, repetieren, zusammenfassen, bewerten, einordnen, ausdiskutieren; das Erzählte bleibt auf sich beruhen. Die Schatzkiste wird geöffnet, man nimmt sich heraus, was man möchte, das darf man dann behalten. Erzählungen sind Angebote, sind kostbare Geschenke. Sie verpflichten zu nichts, weil sie den Zuhörenden in Unruhe versetzen, indem sie ihn in Ruhe lassen.



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