- 386 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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seiner Rede verdunkeln konnte, auf daß wir, wie nach einem atemverschlagenden Film, in die Pause stolperten, uns auf Einzelheiten zwar nicht mehr besannen, indessen unter dem Eindruck standen, bei etwas ganz Großartigem dabei gewesen zu sein. Dr. Karl Kraus (ich setze ihm hier mit einer gewissen Rührung und Dankbarkeit ein kleines unwichtiges Denkmal) hat uns als Lehrer angepackt, weil wir seiner Begeisterung an Geschichte teilhaftig wurden und weil es wohl keine andere Form der Mitteilung solcher Leidenschaften gibt, als sie in entsprechend bewegte, bewegende Worte zu kleiden, auf daß aus Geschichte der Stoff für Geschichten gesaugt werde. Dr. Karl Kraus hat sich (methodisch zweifellos tödlich einseitig) in jeder Stunde als Historiker aus Passion geoutet, hat erzählt, was zu erzählen ihn angetrieben hat, und verfügte als gestandener Philologe vollumfänglich über jenes königliche Medium, welches Fakten und Gefühle, Tatsachen und Eindrücke, Erklärungen und Rührungen, Analysen und Impressionen zu gleichen Gewichten und ungeschmälert zu transportieren in der Lage ist. Ohne Zweifel ging all das durch das Kraussche Filter, und von einer objektiven Geschichts-Darstellung konnte wohl kaum die Rede sein. Dafür hatte sie den unbestreitbaren Vorzug einer subjektiven Färbung, einer ganz persönlichen Vor-„Besichtigung“, einer höchst individuellen Darstellung, ich sollte besser sagen: Darbietung, noch genauer: Inszenierung. Dr. Karl Kraus würde heute mit Aplomb durch jede Lehrprobe fallen, das Referendariat ganz sicher nicht bestehen, vielleicht als Taxifahrer im Verkehrsstau seinen Fahrgästen die eine oder andere Geschichte erzählen.


Man verfällt ins Grübeln und fragt sich, was diesen Kauz, der zu kurzsichtig war, um uns Schüler überhaupt wahrnehmen zu können, zu einem so eindrucksvollen Pädagogen hat formen können. Daß er Geschichten erzählt hat? Daß er uns äußerlich zwar in Ruhe, innerlich aber in Bewegung versetzte? Daß er mit Worten elegant, anschaulich und musikalisch umgehen konnte? Daß er uns die Gewißheit vermittelte, uns für die Geschichte entzünden zu können dadurch, daß er selbst als lodernde Fackel in Erscheinung trat (und nicht als methodisch routinierter Lampenanzünder)? Daß er in der Tat eine regressive Befindlichkeit herzustellen fähig war, indem er sich in die Rolle des Märchenerzählers, uns aber in die der staunenden Kinder verwandelte? Daß er seinen Auftrag, ein Lehrer zu sein, wörtlich nahm insofern, als er uns belehren wollte und das Belehrende in möglichst anschaulicher, erlebnishafter Form darbot? Daß er, ohne je ein Wort darüber zu verlieren, ohne je eine Evaluation, eine Lernkontrolle, eine Sicherung des vermittelten Wissens vorzunehmen, an die Überzeugungskraft eines gebildeten, kultivierten, kinderfreundlichen Erwachsenen vertraute, der das Vertrauen in seine Glaubwürdigkeit nicht als amtliche Bugwelle vor sich herschob, sondern es in jeder Geschichtsstunde aufs neue unter Beweis stellte?



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