seiner Rede verdunkeln konnte, auf daß wir, wie nach einem
atemverschlagenden Film, in die Pause stolperten, uns auf
Einzelheiten zwar nicht mehr besannen, indessen unter dem Eindruck
standen, bei etwas ganz Großartigem dabei gewesen zu sein. Dr.
Karl Kraus (ich setze ihm hier mit einer gewissen Rührung und
Dankbarkeit ein kleines unwichtiges Denkmal) hat uns als Lehrer
angepackt, weil wir seiner Begeisterung an Geschichte teilhaftig
wurden und weil es wohl keine andere Form der Mitteilung solcher
Leidenschaften gibt, als sie in entsprechend bewegte, bewegende Worte
zu kleiden, auf daß aus Geschichte der Stoff für
Geschichten gesaugt werde. Dr. Karl Kraus hat sich (methodisch
zweifellos tödlich einseitig) in jeder Stunde als Historiker aus
Passion geoutet, hat erzählt, was zu erzählen ihn
angetrieben hat, und verfügte als gestandener Philologe
vollumfänglich über jenes königliche Medium, welches
Fakten und Gefühle, Tatsachen und Eindrücke, Erklärungen
und Rührungen, Analysen und Impressionen zu gleichen Gewichten
und ungeschmälert zu transportieren in der Lage ist. Ohne
Zweifel ging all das durch das Kraussche Filter, und von einer
objektiven Geschichts-Darstellung konnte wohl kaum die Rede sein.
Dafür hatte sie den unbestreitbaren Vorzug einer subjektiven
Färbung, einer ganz persönlichen Vor-„Besichtigung“,
einer höchst individuellen Darstellung, ich sollte besser sagen:
Darbietung, noch genauer: Inszenierung. Dr. Karl Kraus würde
heute mit Aplomb durch jede Lehrprobe fallen, das Referendariat ganz
sicher nicht bestehen, vielleicht als Taxifahrer im Verkehrsstau
seinen Fahrgästen die eine oder andere Geschichte erzählen.
Man verfällt ins Grübeln und fragt sich, was diesen Kauz, der zu kurzsichtig war, um uns Schüler überhaupt wahrnehmen zu können, zu einem so eindrucksvollen Pädagogen hat formen können. Daß er Geschichten erzählt hat? Daß er uns äußerlich zwar in Ruhe, innerlich aber in Bewegung versetzte? Daß er mit Worten elegant, anschaulich und musikalisch umgehen konnte? Daß er uns die Gewißheit vermittelte, uns für die Geschichte entzünden zu können dadurch, daß er selbst als lodernde Fackel in Erscheinung trat (und nicht als methodisch routinierter Lampenanzünder)? Daß er in der Tat eine regressive Befindlichkeit herzustellen fähig war, indem er sich in die Rolle des Märchenerzählers, uns aber in die der staunenden Kinder verwandelte? Daß er seinen Auftrag, ein Lehrer zu sein, wörtlich nahm insofern, als er uns belehren wollte und das Belehrende in möglichst anschaulicher, erlebnishafter Form darbot? Daß er, ohne je ein Wort darüber zu verlieren, ohne je eine Evaluation, eine Lernkontrolle, eine Sicherung des vermittelten Wissens vorzunehmen, an die Überzeugungskraft eines gebildeten, kultivierten, kinderfreundlichen Erwachsenen vertraute, der das Vertrauen in seine Glaubwürdigkeit nicht als amtliche Bugwelle vor sich herschob, sondern es in jeder Geschichtsstunde aufs neue unter Beweis stellte?
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