- 385 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Erzählkunst, seiner anschaulich gewählten Sprachbilder, seiner musikalisch durchgeschliffenen Satzmelodien, seiner effektvoll gesetzten Pausen, seiner rhetorischen Fragen und markanten Ausrufezeichen, seiner dynamischen Flexibilität zwischen geheimnisvollem Pianissimo und sparsam dosiertem Sforzato, das auch den Schläfrigsten dann und wann aus den Träumen in die Leipziger Gegenwart zurückholte. Wenn man 12, 13, 14 Jahre alt ist, wird man der dramaturgischen Mittel nicht gewahr; nicht merkt man den stringent entwickelten Faden, nicht die cresendierene Gestaltung auf einen finalen Punkt hin, nicht die geschickte Parallelisierung von Handlungsfäden und nicht deren geschickte Zusammenführung. Überhaupt rauscht so ein Vortrag in der Länge von 45 (!) Minuten in vielen Einzelheiten an Kinderohren vorbei, und auch hier fällt mir kein anderer Gewährsmann ein als Thomas Mann, ein pädagogischer Ratgeber von weiß Gott geringem Kurswert. In der Gestalt von Serenus Zeitblom wolle er, Thomas Mann, nur darauf aufmerksam machen, daß der Vortragende Wendell Kretschmar aus Kaiseraschern


da von Dingen, Angelegenheiten, Kunstverhältnissen sprach, die noch gar nicht in unseren Gesichtskreis fielen und nur am Rande desselben erst durch sein immerfort gefährdetes Sprechen schattenhaft für uns auftauchten; daß wir ihn nicht zu kontrollieren vermochten außer durch seine eigenen erläuterten Vorführungen am Pianoforte, und dem allen mit der dunkel erregten Phantasie von Kindern zuhörten, die Märchen lauschen, welche sie nicht verstehen, während ihr zarter Geist sich doch auf eine eigentümlich traumhaft ahnungsvolle Weise dadurch bereichert und gefördert sieht. „Fuge“, „Kontrapunkt“, „Eroica“, „Verwirrung durch überfärbte Modulationen“, „strenger Stil“, – das war im Grunde alles noch Märchengeraun für uns, aber wir hörten es so gern und mit so großen Augen, wie Kinder das Unverständliche, eigentlich noch ganz Unzukömmliche hören – und zwar mit viel mehr Vergnügen, als das Nächste, Wohlentsprechende, Angemessene ihnen gewährt. Will man glauben, daß dies die intensivste und stolzeste, vielleicht förderlichste Art des Lernens ist – das antizipierende Lernen, das Lernen über weite Strecken von Unwissenheit hinweg? Als Pädagoge sollte ich ihm wohl nicht das Wort reden, aber ich weiß nun einmal, daß die Jugend es außerordentlich bevorzugt, und ich meine, der übersprungene Raum füllt sich auch mit der Zeit wohl von selber aus (Thomas Mann: Doktor Faustus).


Dr. Karl Kraus, erzählte er nun von Napoleons Leipziger Schlappe oder vom Glanz des Wiener Kongresse, war nicht identisch mit dem stotterndem Wendell Kretschmar am „minderen Pianino“, auch mutete er uns nicht das „Unverständliche“, „Unzukömmliche“ zu. Aber er, in Gestalt und Erscheinung eine wunderliche Figur, verstand sich auf das dunkle Erregen unserer Phantasie kraft der Gewalt seiner Sprache, seiner volltönenden Modulationen, seiner wortgezeugten Bildhaftigkeit. Um ehrlich zu sein: ich erinnere mich der Details nicht mehr; ich erinnere mich eines Mannes, dem das Feuer der Begeisterung aus den Augen und dessen Wort uns in seinen Bann schlug. Ich erinnere mich, daß damals – über 40 Jahre ist das her – in unserer Imagination faßlich Gesichter, leibhaftige Personen, mit- und nachvollziehbare Ereignisse aufgetaucht sind. Bilder. Sinnbilder. Phantasiebilder. Ich erinnere mich daran, daß es eine Lust war, diesem Barden zuzuhören dergestalt, daß die Lust des Zuhörens zuweilen den Inhalt


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