- 384 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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wo da der vielbeschworene affektive Kick herkommen soll, ist mir schleierhaft. Handlungsorientierte, interaktive Unterrichts-Dramaturgien sind trockenes Brot, das einen ganzen Vormittag lang verabreicht wird, Kuchen ist verboten, Süßes macht Karies. Darüber wachen die Gralshüter. Sie, die Fachleiter und fachleiter­infizierten Mentoren, kreiden einem Lehrprobenden gnadenlos an, er habe fünf­einhalb Minuten lang einen Vortrag gehalten, er sei ungebührlich lange ins frontale Unterrichten verfallen, er habe doziert, die Klasse habe schweigend zuhören müssen. Aus Gründen, die mir vollkommen unerfindlich sind, hat man das schweigende Zuhören unter Strafe gestellt. Schweigendes Zuhören scheint irgendwie gleichgesetzt zu werden mit Langeweile, Wegtreten, Dösen, Überfordertwerden, Einschlafen, Kommunikationsverlust. Schweigendes Zuhören gilt als paralysierter Zustand, als unterrichtsmethodischer Alptraum, als Ausgeburt von lehrerautoritärer Gewaltanwendung. Schweigendes Zuhören meint komatöses Unterrichtsklima, meint Hirntod, Verlust jeglicher Kontakte zum Schüler. Schweigendes Zuhören scheint irgendwie mit dem richtigen Leben aber auch gar nichts zu tun zu haben. Nichts? Ich persönlich zähle es zu den lustvollen Momenten, einem gut gebauten und anregend vorgetragenen Kongreßreferat einer Kollegin schweigend zuzuhören. Ich persönlich höre still und leise zu, wenn einer meiner Freunde von seiner Angeltour in Nord-Schweden berichtet. Ich persönlich muß nun wirklich kein Wort beitragen, wenn mit jemand erklärt, wie man einen Motorradvergaser aus- und wieder einbaut. Ich persönlich lausche, falls mir eine Freundin anschaulich und detailverliebt von ihrem wundervollen Vater erzählt. Ich, der ich ansonsten weder die Tinte noch das Maul halten kann. Man könnte einwenden: oh ja, im privaten Kreis, bei vorhandener Sympathie – da geht das gut! Motorradvergaser? Nur wenn man Biker ist, sonst doch wohl eher nicht, oder? Kongreßreferate sind spannend, vielleicht weil man das Thema spannend findet, außerdem ist man ja extra dorthin gefahren, um ... na ja ... eben Referate zu hören. In der Schule haben Erzähler nichts zu suchen, und Referate sind Sache von Schülern zur Erlangung von guten Noten. Basta!


Ich halte das für grundfalsch und kann zu meiner Rechtfertigung leider nichts Besseres stammeln als die noch heute lebhafte Erinnerung an meinen kurzsichtigen Geschichtslehrer (Dr. Karl Kraus hieß er, die Doppelbödigkeit seines Namens war uns Zwölfjährigen leider noch nicht klar), wie er sich anfangs der Stunde manierlich in Positur stellte, die Füße akkurat nebeneinander, Hände hinter geradem Rücken verschränkt, den Hornbrillenblick leicht in die Ferne geschweift und anhebend mit der Bemerkung, er wolle uns heute erzählen, warum Napoleon die Schlacht bei Leipzig verloren und welche Folgen diese seine Niederlage für den Deutschen Bund gehabt habe. Das eine wie das andere hat uns wenig interessiert, aber er, der Stimmenzauberkünstler, der Sprachgewaltige, der Wortmächtige, er schlug uns ein ums andere Mal in den Bann seiner


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