- 383 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Nachgedacht. Verglichen. Angewendet. Übertragen. Gesammelt. Gestritten. Ausgetauscht. Eingetragen. Gelesen. Nachgelesen. Gegengelesen. Vorgelesen. Mitgelesen. Partitur gelesen. Gesprochen. Nachgesprochen. Gegengesprochen. Vorgesprochen. Mitgesprochen. Widersprochen. Leise gesprochen (bei der Gruppenarbeit). Laut gesprochen (beim Rollenspiel). Beiseite gesprochen („wie spät ist es eigentlich?“). Überlegt. Unterstrichen. Reingeschrieben. Rausgesucht. Hingeschaut. Wegradiert. Eingezeichnet. Ausgegliedert. Eingeworfen. Ausdiskutiert. Informiert. Analysiert. Definiert. Differenziert. Modifiziert. Subsumiert. Appliziert. Transformiert. Evaluiert. Und jede Menge konversiert, die mündliche Note zählt. Kleinvieh macht auch Mist. Sie haben das gemacht, was für die Lernzielformulierung eines jeden zeitgemäßen Unterrichts-Entwurfs geltendes Recht ist: sie haben operationale Lernziele eingelöst. S i e haben gearbeitet, vor allem sie, weniger ihr Lehrer, der hat nur die Motoren gestartet, ab und zu mal Gas gegeben, dann und wann gebremst, hin und wieder die Gesprächs-Vorfahrten geregelt. Es gilt, ich weiß nicht warum, irgendwie als besonders chic, wenn sich der Lehrer – meistens entspannt an Fensterbänken lehnend – gleichsam ausblendet aus einem Unterrichtsprozeß, der dann von selbst läuft. Unterricht wird nicht erteilt, Unterricht wird organisiert. Unterricht wird nicht mehr gehalten, Unterricht wird gefahren. Unterricht wird nicht gestaltet, Unterricht wird inszeniert. Nicht länger ist Unterricht ein Kunstgebilde, sondern technokratisch kalkuliertes Rollenspiel. Was ich – z. B. während fachdidaktischer Tagespraktika oder während besuchsweiser Praktikumsbetreung – bei diesen inszenierten und stets nach gleichem Ritual dahinschnurrenden Diskussionsspielchen beobachte, nötigt mir Hochachtung ab: Schüler spielen das Spiel zum Teil mit vollendeter Gelassenheit, mit professionellem Geschick, mit gut einstudierter Rolle. So ein Unterricht verläuft leise, über weite Strecken monoton, um nicht zu sagen: langweilig. Man sitzt über irgendeinen Text oder eine Partiturseite gebeugt, hat den Bleistift in der Hand, trägt in die Kursmappe ein, was an der Tafel prangt. Mich erstaunt, wie diszipliniert solche Grundkurse ablaufen; Lehrerärgern scheint mega-out zu sein, private Binnengespräche entwickeln sich mit größter Behutsamkeit. Geschliffener Wortwitz sorgt dann und wann für heitere Entspannung: ein paar Lockerungsübungen fürs sparflammenkochende Gehirn. Mit einem Wort: man ist bei der Arbeit. Und das volle sechs bzw. acht Stunden lang.


Ich finde diese coolen Unterrichts-Dramaturgien mit Verlaub zum Kotzen. Sie machen Schüler älter, als sie sind. Sie machen Schüler erwachsener, als sie sind. Sie machen Schüler zu wissenschaftsdiskursiven Partnern, was sie nicht sind (und ob das schon Wissenschaft ist, wäre kritisch noch zu prüfen, wahrscheinlich nicht). Sie verlangen Schülern mehr Arbeit ab, als sie leisten können. Sie bewegen sich stundenlang auf rein kognitiver, auf strikt analytischer Ebene;


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