Lexikon unter Johann
Strauß nach und schreibt eine Inhaltsangabe zur Fledermaus!“.
Pause. Dann das gleiche Spiel im Deutschunterricht. Wieder 90 Minuten
Schüler-Lehrergespräch, denn auch der Deutschlehrer ist
nebenberuflich Hebamme, auch er möchte Interaktionen, Dispute,
Koordinatennetze aus Meinungen und Gegenmeinungen, auch er will, daß
seine Schüler möglichst selbständig und
selbstorganisiert ins Ziel kommen: zur Antwort auf die Frage, ob
Schillers Auffassung von der Schaubühne als einer „moralischen
Anstalt“ auch heute noch Gültigkeit habe (Brechts
Theaterthesen werden in Kopie ausgeteilt). Tafelbilder wie gehabt,
Hausaufgaben wie gehabt, Referate wie gehabt. Pause. 90 Minuten
Französischunterricht schließen sich an. Es geht um die
von den Schülern möglichst selbständig zu bearbeitende
und zu beantwortende Frage, ob Pierre Daninos Texte über den
typischen Franzosen Karikatur oder nüchterner Befund seien. Die
Französischlehrerin organisiert, das hat sie bei der letzten
Fortbildung gelernt, ein Rollenspiel mit Ankläger, Verteidiger
und Richter. Zwischengeschaltet ist eine ausgiebige Gruppenarbeit.
Die Ergebnisse werden auf Tonkassette festgehalten. Pause. Manche
Schüler gehen nach Hause, manche – ist ist mittlerweile
gegen 14 Uhr – haben noch Ethik-Kurs. Den hält ein
Referendar. Er gibt sich große Mühe und zeigt ein Video
über „Gewalt in deutschen Fußballstadien“. Die
Schüler machen sich anonym Notizen, dann werden diese
eingesammelt und gemischt wieder ausgeteilt. So kommt es, daß
der eine Schüler den Standpunkt des anderen vertreten muß,
was zu mancherlei Turbulenzen führt. Der Fachleiter ist
begeistert. Er lobt an der Stunde vor allem die „lebhafte und
selbständige Mitarbeit fast aller Schüler“ und
findet, deswegen sei es eine gelungene Doppelstunde gewesen mit einem
„besonders geschickt inszenierten Transfer“. Schulschluß
gegen 15:30 Uhr. Die Schüler gehen nach Hause. Sie haben, nimmt
man den einschlägigen Jargon beim Wort, „im Unterricht
stattgefunden“. Vollumfänglich sozusagen. Sie haben den
Prozeß des Lernens auf eine geradezu emanzipatorische Weise
mitgestaltet. Sie haben gehandelt, also waren sie
handlungsorientiert. Sie haben interagiert, also sei ihnen
interaktives Lernen gedankt. Gedankt aus der Sicht des Lehrers, denn
die Beschenkten sind die Lehrer, nicht die Schüler (es gehört,
nebenbei, heute zum guten Ton zumal von jüngeren Lehrern, sich
bei den Schülern für ihre Mitarbeit zu bedanken;
Referendare verleihen diesem Dank mit Negerküssen klebrigsüßen
Nachdruck). Sie, die Lehrer, konnten sich im Verlauf eines langen
Schultages auf die Rolle des Kopienverteilers,
Transparentfolienauflegers, Tafeldiagrammzeichners,
Rollenspielregisseurs, Diskussionsleiters und Moderators beschränken,
Impulse gebend, Fragen stellend, Antworten einsammelnd,
Gruppenarbeiten überwachend, Videos einschiebend, Hausarbeiten
verteilend.
Die Schüler? Sie haben in diesem weiß Gott nicht wirklichkeitsfernen Szenario viermal 90 Minuten gekrüppelt wie die armen Tänzer. Sie haben gedacht. |