- 382 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Lexikon unter Johann Strauß nach und schreibt eine Inhaltsangabe zur Fledermaus!“. Pause. Dann das gleiche Spiel im Deutschunterricht. Wieder 90 Minuten Schüler-Lehrergespräch, denn auch der Deutschlehrer ist nebenberuflich Hebamme, auch er möchte Interaktionen, Dispute, Koordinatennetze aus Meinungen und Gegenmeinungen, auch er will, daß seine Schüler möglichst selbständig und selbstorganisiert ins Ziel kommen: zur Antwort auf die Frage, ob Schillers Auffassung von der Schaubühne als einer „moralischen Anstalt“ auch heute noch Gültigkeit habe (Brechts Theaterthesen werden in Kopie ausgeteilt). Tafelbilder wie gehabt, Hausaufgaben wie gehabt, Referate wie gehabt. Pause. 90 Minuten Französischunterricht schließen sich an. Es geht um die von den Schülern möglichst selbständig zu bearbeitende und zu beantwortende Frage, ob Pierre Daninos Texte über den typischen Franzosen Karikatur oder nüchterner Befund seien. Die Französischlehrerin organisiert, das hat sie bei der letzten Fortbildung gelernt, ein Rollenspiel mit Ankläger, Verteidiger und Richter. Zwischengeschaltet ist eine ausgiebige Gruppenarbeit. Die Ergebnisse werden auf Tonkassette festgehalten. Pause. Manche Schüler gehen nach Hause, manche – ist ist mittlerweile gegen 14 Uhr – haben noch Ethik-Kurs. Den hält ein Referendar. Er gibt sich große Mühe und zeigt ein Video über „Gewalt in deutschen Fußballstadien“. Die Schüler machen sich anonym Notizen, dann werden diese eingesammelt und gemischt wieder ausgeteilt. So kommt es, daß der eine Schüler den Standpunkt des anderen vertreten muß, was zu mancherlei Turbulenzen führt. Der Fachleiter ist begeistert. Er lobt an der Stunde vor allem die „lebhafte und selbständige Mitarbeit fast aller Schüler“ und findet, deswegen sei es eine gelungene Doppelstunde gewesen mit einem „besonders geschickt inszenierten Transfer“. Schulschluß gegen 15:30 Uhr. Die Schüler gehen nach Hause. Sie haben, nimmt man den einschlägigen Jargon beim Wort, „im Unterricht stattgefunden“. Vollumfänglich sozusagen. Sie haben den Prozeß des Lernens auf eine geradezu emanzipatorische Weise mitgestaltet. Sie haben gehandelt, also waren sie handlungsorientiert. Sie haben interagiert, also sei ihnen interaktives Lernen gedankt. Gedankt aus der Sicht des Lehrers, denn die Beschenkten sind die Lehrer, nicht die Schüler (es gehört, nebenbei, heute zum guten Ton zumal von jüngeren Lehrern, sich bei den Schülern für ihre Mitarbeit zu bedanken; Referendare verleihen diesem Dank mit Negerküssen klebrigsüßen Nachdruck). Sie, die Lehrer, konnten sich im Verlauf eines langen Schultages auf die Rolle des Kopienverteilers, Transparentfolienauflegers, Tafeldiagrammzeichners, Rollenspielregisseurs, Diskussionsleiters und Moderators beschränken, Impulse gebend, Fragen stellend, Antworten einsammelnd, Gruppenarbeiten überwachend, Videos einschiebend, Hausarbeiten verteilend.


Die Schüler? Sie haben in diesem weiß Gott nicht wirklichkeitsfernen Szenario viermal 90 Minuten gekrüppelt wie die armen Tänzer. Sie haben gedacht.


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