- 352 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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3. Auch wenn das Selber-Singen aus dem Alltag unserer Gesellschaft im Vergleich zu früheren Zeiten weitgehend verschwunden ist, besteht den erwähnten empirischen Untersuchungen zufolge bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung noch immer ein ausgeprägtes Bedürfnis zu singen. Dieses Bedürfnis wird allerdings kaum praktisch im gemeinsamen Gesang mit anderen ausgelebt, da es im Vergleich zu früher so gut wie keine Gelegenheiten mehr gibt, ungezwungen mit anderen zu singen. Es drückt sich heute vor allem im Alleine-vor-sich-hin-Singen aus: im Auto, in der Badewanne, bei der Hausarbeit oder handwerklichen Tätigkeiten, auf dem Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad. Die Mehrheit ist jedoch – wie bereits erwähnt – unangenehm berührt und empfindet den empirischen Befunden zufolge Scham, wenn ein anderer unerwartet hinzutritt. Was wäre, wenn Gelegenheiten zum ungezwungenen gemeinsamen Singen geschaffen würden?


4. Meiner jahrzehntelangen beruflichen Erfahrung zufolge kann trotz allem immer wieder in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, von der Managertagung über die Medizinerkonferenz bis zum Jugendtreff, ein leichter Zugang zum Singen geschaffen werden, wenn Musiker oder Gesangspädagogen eine Form des Singens anbieten, in der nicht ausschließlich die Leistung, sondern die Einheit von Qualität und persönlichem Erleben der Singenden im Mittelpunkt steht, und natürlich, wenn sie selbst begeistert sind.


5. Als aktuelle Tendenz ist jedoch auch nicht zu verkennen: durch die Neuentdeckung der Emotionalität, der sogenannten Emotionalen Intelligenz (Golemann 1997), als einer wesentlichen Dimension der Persönlichkeitsentfaltung in jüngster Zeit und durch erste Anfänge eines gesellschaftlichen Wertewandels in diese Richtung entstehen heute auch wieder gesellschaftliche Bedingungen, in denen das Singen als primär emotionaler Ausdruck zu einem individuellen und sozialen Bedürfnis werden und hierdurch einen neuen Aufschwung erleben könnte. Unverkennbar geschieht dieses in gesellschaftlichen Nischen ja bereits, lassen sich Keimformen des Neuen im Alten schon finden.


Der Prozeß der Herausbildung einer ‚Erneuerten Kultur des Singens‘ birgt also ungeahnte und durch nichts gleichwertig ersetzbare pädagogische Möglichkeiten, wenn es um integrative Persönlichkeitsbildung geht, wenn man körperlich und seelisch gesunde, sozialfähige und tolerante sowie auf die eigenen Möglichkeiten bezogen leistungsstarke und liebevolle Menschen zum Leitbild der eigenen pädagogischen Arbeit erhebt. Eine intensive interdisziplinäre Forschung und musikpädagogische Praxiserkundung aus dieser Perspektive können bedeutende neue Handlungsräume für die Bewältigung der Gegenwartsanforderung an Schule und Schulung ins Blickfeld rücken.


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