- 350 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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zu reflektieren. Sprachkompetenz vermehrt die Ausbildung von komplexen Sozialfähigkeiten, die Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme mit dem Anderen. Je weniger dieser Prozeß fortgeschritten ist, desto größer ist die Gefahr von unsozialen und in ihrer extremsten Form gewalttätigen Handlungen. Zunehmende Sprachinkompetenz eines Teils ihrer Mitglieder ist längst fundamentales Problem in unserer Gesellschaft geworden, deren Wertvorstellungen sich auf Dialog und Toleranz aufbauen. Der verstärkte Analphabetismus in unserem Land führt zu immer größer werdenden A-Sozialitäten und Unversöhnlichkeiten. Die Entfaltung der Seelensprache des Singens könnte gerade der immer größer werdenden Gruppe jener, die angesichts des bereitstehenden Reichtums der Sprache ungeschminkt als sprachverkümmert bezeichnet werden kann, eine große Hilfe sein. Speziell auch deshalb, weil das Singen auf besondere Weise die Fähigkeit zu lauschen befördern kann. Durch die Fähigkeit zu lauschen wachsen aller Erfahrung nach auch die Fähigkeit und das Interesse, zu sprechen und die Worte des anderen zu erhören. Die Sprache gewinnt in diesem Prozeß wieder an Bedeutung. Die Sprachfähigkeit, und damit zugleich die Dialog- und Toleranzfähigkeit, entfalten sich in komplexeren Bezügen.

Auch das folgende paßt in die heutige Zeit des Neuaufbruchs und der Überwindung alter Paradigmen. So argumentierte der Rechtswissenschaftler Gerhard Huhn in seiner Arbeit Kreativität und Schule, daß die einseitige Überbetonung der rationalen Dimension in den Lehrplänen der Allgemeinbildenden Schulen, daß die Verwissenschaftlichung, besonders auch im Fach Musik, die freie Entfaltung der Persönlichkeit ernsthaft gefährdet und damit verfassungswidrig ist. Denn, verkürzt gesagt, wird damit die Entwicklung der linken Gehirnhemisphäre überproportional gefördert, während die rechte Gehirnhemisphäre, die primär für das intuitive und analoge Denken zuständig ist, verkümmert. (Vgl. Huhn 1990.) Es fehlt allerdings noch an der entsprechenden sozialen Bewegung, daß derartige Erkenntnisse auch gesellschaftlichen Konsequenzen zeitigen. Aber allein die Tatsache, daß eine solche Arbeit geschrieben wurde, ist Zeichen eines Aufbruchs.


Hier möchte ich auch noch zur Vertiefung hinzufügen: Große Teile der rationalen Dimensionen des Denkens können langfristig sicherlich besser, schneller, zuverlässiger von Maschinen übernommen werden, denn sie folgen der Logik. Im Unterschied zur Maschine braucht der Mensch zur vollständigen Entfaltung seiner Potentiale eine gleichgewichtige Entwicklung seiner rechten Gehirnhälfte, deren Entfaltung und deren Zusammenwirken mit der linken Gehirnhemisphäre erst wirklich ermöglicht, die komplexen Herausforderungen an seine Dialogfähigkeit zu bewältigen. Den Dialog betrachte ich bezüglich unserer Zukunftsfähigkeit als zentralen Begriff. Neben der Logik als Wissenschaft gälte es entsprechend eine Wissenschaftsdisziplin zu entwickeln, die ich als Dialogik bezeichnen möchte. Mit der rechten Gehirnhälfte, vereinfacht gesagt, entscheidet der Mensch, was er tun will. Er kann dort komplexe Bewertungen vornehmen.


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