aufgegriffenen Form des
offenen Singens, die besonders auch vom Arbeitskreis Musik in der
Jugend (AMJ) initiiert wird, zeigen meines Erachtens das Neuerwachen
eines Bedürfnisses zu singen. Immer häufiger sind in
Angeboten der Erwachsenenbildung Kurse im Sinne von „Singen und
Selbsterfahrung“ zu entdecken. Es entstanden in den letzten
Jahren in vielen Städten Obertonchöre, die besonders die
meditativen, selbstbezüglichen Aspekte von Singen und
Stimmklangexperimenten erkunden. Neulich las ich von der
Naturheilärztin Carien Wijnen aus Berlin, die sich auf die
Stärkung der Selbstheilungskräfte durch Singen
spezialisiert hat. Peter Michael Hamel experimentiert seit langem,
manchmal sogar mit mehreren hundert Teilnehmern, auf dem Gebiet der
Stimmimprovisation. Und er steht damit nicht allein. In Bonn
bietet die Hebamme Monika Brühl Singen, Geburtsvorbereitung und
Geburtsbegleitung an. Auch sie ist nicht die einzige im Bereich der
Gesundheitsvorsorge und Therapie. Der 92jährige Konzertsänger
und Stimmtherapeut Fritz Jaeger aus Wuppertal heilt seit Jahrzehnten
u. a. Asthmakranke und kann seine Arbeit über die Krankenkassen
abrechnen, obwohl er keine medizinische oder therapeutische
Ausbildung hat, sondern durch seine Lebenspraxis als Konzertsänger
und Stimmbildner die Heilkraft des Singens entdeckt hat. Er behandelt
durch begeisternde und beseelende Anleitung zum Singen zum Beispiel
auch erfolgreich Kinder mit Lernstörungen und mangelndem
Selbstbewußtsein. Aber auch Depressive kommen zu ihm und
erwerben sich so eine Methode, ihre Depressionen aus eigener Kraft
durch Singen zu bewältigen. Und natürlich sind die
engagierten Lehrerinnen und Lehrer zu nennen, die immer wieder
entgegen dem Trend zur Coolness damit experimentieren, wie sie die
Schülerinnen und Schüler zum Singen begeistern können
und beispielsweise mit leichten Formen des Kanonsingens durch das
Erfahrbarmachen polyphoner Klanggestaltung das Interesse an
Vertiefung wecken, und ich staune immer wieder, was trotz allem
möglich ist, wenn man als Musikpädagoge selbst begeistert
ist. (Vgl. Rauhe 1995 und Adolphsen/Rauhe 1999.)
Eine schöne Anekdote, die belegt, daß sich ein wenn auch vorsichtiger Stimmungsumschwung in der Gesellschaft hin zum Singen zu vollziehen scheint, ist folgende Werbung der Firma Henkel: Es wird ein Bad-Reiniger mit dem Namen biff angepriesen, der so gut sein soll, daß er quasi selbsttätig das ganze Bad reinigt und man viel Zeit spart. „Damit Sie wieder Zeit zum Singen finden“ schließt der Werbespot. Wenn es nicht ein Empfinden eines diesbezüglichen Mangels bei einer Mehrheit gäbe, wäre die Werbung verfehlt. Wir können aber davon ausgehen, daß die Werbefachleute einer so großen Firma wie Henkel genügend Geldmittel zur Verfügung haben, um zu recherchieren. All das – und es ließen sich noch viele interessante Beispiele anfügen – hat im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft den Stellenwert von Ausnahmen. Sie sind meiner Meinung nach aber deutliche Boten eines neuen Frühlings des Singens, die einen möglichen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft ankündigen. |