- 346 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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aufgegriffenen Form des offenen Singens, die besonders auch vom Arbeitskreis Musik in der Jugend (AMJ) initiiert wird, zeigen meines Erachtens das Neuerwachen eines Bedürfnisses zu singen. Immer häufiger sind in Angeboten der Erwachsenenbildung Kurse im Sinne von „Singen und Selbsterfahrung“ zu entdecken. Es entstanden in den letzten Jahren in vielen Städten Obertonchöre, die besonders die meditativen, selbstbezüglichen Aspekte von Singen und Stimmklangexperimenten erkunden. Neulich las ich von der Naturheilärztin Carien Wijnen aus Berlin, die sich auf die Stärkung der Selbstheilungskräfte durch Singen spezialisiert hat. Peter Michael Hamel experimentiert seit langem, manchmal sogar mit mehreren hundert Teilnehmern, auf dem Gebiet der Stimm­improvisation. Und er steht damit nicht allein. In Bonn bietet die Hebamme Monika Brühl Singen, Geburtsvorbereitung und Geburtsbegleitung an. Auch sie ist nicht die einzige im Bereich der Gesundheitsvorsorge und Therapie. Der 92jährige Konzertsänger und Stimmtherapeut Fritz Jaeger aus Wuppertal heilt seit Jahrzehnten u. a. Asthmakranke und kann seine Arbeit über die Krankenkassen abrechnen, obwohl er keine medizinische oder therapeutische Ausbildung hat, sondern durch seine Lebenspraxis als Konzertsänger und Stimmbildner die Heilkraft des Singens entdeckt hat. Er behandelt durch begeisternde und beseelende Anleitung zum Singen zum Beispiel auch erfolgreich Kinder mit Lernstörungen und mangelndem Selbstbewußtsein. Aber auch Depressive kommen zu ihm und erwerben sich so eine Methode, ihre Depressionen aus eigener Kraft durch Singen zu bewältigen. Und natürlich sind die engagierten Lehrerinnen und Lehrer zu nennen, die immer wieder entgegen dem Trend zur Coolness damit experimentieren, wie sie die Schülerinnen und Schüler zum Singen begeistern können und beispielsweise mit leichten Formen des Kanonsingens durch das Erfahrbarmachen polyphoner Klanggestaltung das Interesse an Vertiefung wecken, und ich staune immer wieder, was trotz allem möglich ist, wenn man als Musikpädagoge selbst begeistert ist. (Vgl. Rauhe 1995 und Adolphsen/Rauhe 1999.)

Eine schöne Anekdote, die belegt, daß sich ein wenn auch vorsichtiger Stimmungsumschwung in der Gesellschaft hin zum Singen zu vollziehen scheint, ist folgende Werbung der Firma Henkel: Es wird ein Bad-Reiniger mit dem Namen biff angepriesen, der so gut sein soll, daß er quasi selbsttätig das ganze Bad reinigt und man viel Zeit spart. „Damit Sie wieder Zeit zum Singen finden“ schließt der Werbespot. Wenn es nicht ein Empfinden eines diesbezüglichen Mangels bei einer Mehrheit gäbe, wäre die Werbung verfehlt. Wir können aber davon ausgehen, daß die Werbefachleute einer so großen Firma wie Henkel genügend Geldmittel zur Verfügung haben, um zu recherchieren.

All das – und es ließen sich noch viele interessante Beispiele anfügen – hat im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft den Stellenwert von Ausnahmen. Sie sind meiner Meinung nach aber deutliche Boten eines neuen Frühlings des Singens, die einen möglichen Bewußtseinswandel in der Gesellschaft ankündigen.


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