- 340 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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nur noch in Ausnahmefällen eine angemessene Rolle. Es war offensichtlich noch nicht möglich, aus der Geschichte des Mißbrauchs von Singen wirklich zu lernen. Der Schock des Nationalsozialismus löste als gesellschaftliche Reaktion vielfach Verdrängung und Flucht in Arbeit und Konsum aus. Die Nachkriegsgesellschaft entwickelte auf der Basis dieser Verdrängung eine gewisse Nüchternheit und Vermeidung von Emotionen. Es herrschte ein Klima der Unfähigkeit zur Vergangenheitsbewältigung, in dem man sich vormachte, daß die Emotionen, die an sich unkontrollierbar seien, den Faschismus hervorgerufen hätten. Man glaubte zumeist, mit dem Versuch der Eliminierung alles Emotionalen aus der Gesellschaft die Lehre aus dem Nationalsozialismus gezogen und damit derartige Fehlentwicklungen ein für allemal gebannt zu haben.

Wirkliches Verstehen, wirkliche Bewältigung und Verarbeitung blieben die Ausnahme. Die Mehrheit glaubte, allein schon durch rationale Disziplinierung und Vermeidung des Emotionalen dem Sumpf der Vergangenheit entsteigen zu können. Meines Erachtens ist dies ein paradoxes, sich selbst halbierendes und blockierendes Verhalten. Es gleicht einem Menschen, der nicht wagt, aus seinen Fehlern zu lernen, der sich selbst die Hände abhackt, weil er damit schon einmal Schlechtes getan hat, womit er zugleich aber auch verhindert, jemals wieder Gutes mit diesen Händen tun zu können, und ebenfalls ausschließt, das Schlechte, das er tat, soweit denn möglich wieder gutmachen zu können. Eine sterile Gesellschaft entkernter Rationalität, die keine Kultur des Empfindens und damit der Empfindsamkeit entwickelt – und hier stehen die Künste und besonders die Musik im Mittelpunkt – eine Gesellschaft, die nicht die Einheit von Gefühl und Vernunft anstrebt, sondern das Emotionale strukturell auszugrenzen trachtet, reduziert die Vernunft auf die kargen und kalten Möglichkeiten des Verstandes.

Eine solche Gesellschaft scheint mir nur auf andere Weise menschlichen Lebensraum zu zerstören, als es der deutsche Faschismus im Nationalsozialismus durch seine manipulative Überbetonung und Ausnutzung des Emotionalen bewirkte. Beides ist verheerend. Beide Wege sind ideologische Irrwege. Der eine führt zur Explosion von Gewalt in den gesellschaftlichen Außenraum, beim anderen implodieren die Menschen gleichsam, weil ihr Inneres, ihr Kern seine Substanz verliert. Dies bringt Krankheit hervor. Es geht eben nicht um die Alternative Vernunft oder Emotionalität, denn das Leben erblüht gerade in der Spannung zwischen Vernunftbegabung und Emotionalität des Menschen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging mit der radikalen Hinwendung zum Rationalen auch eine solche zu den emotionalen Ersatzwelten der Medienindustrie einher. Wie sollte also in diesem tendenziell empfindungslosen, vorstellungsarmen und sehnsuchtsunterdrückenden Klima das Singen als Alltagskultur noch weiterleben? Wo doch das Singen seinem Grunde nach geradezu der Inbegriff des authentischen emotionalen Ausdrucks ist. In dem Maße, wie das große Gefühl‘ auf die Leinwand projiziert wurde, wurde die alltägliche Emotionalität,


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