- 305 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Wenn man die Texte speziell der politisch orientierten Lieder heute analysiert, muß man freilich berücksichtigen, daß vieles, was heute Kopfschütteln und innere Abwehr hervorruft, seinerzeit als alltäglich galt. Aufschlußreich war für mich auch, daß ich mich nicht daran erinnern kann, wie und bei welchen Gelegenheiten ich diese Lieder gelernt habe, und daß ich erst heute die Liedertexte und ihre Inhalte reflektiere. Ohne die bindende Form ihrer Melodie wären sie mir kaum über eine so lange Zeit im Gedächtnis geblieben. Man lernt und behält im vorpubertären Alter eben besonders gut, vor allem, wenn es im Erlebniszusammenhang, also unreflektiert-funktional geschieht. Natürlich hat mich auch die Tatsache, so viele Lieder nach so langer Zeit noch immer auswendig zu können, sehr nachdenklich gemacht.37

37 Günther 1999, S. 201. Auch ich selbst, Jahrgang 1930, habe nach immerhin 55–60 Jahren noch mindestens 60 NS-Lieder „im Kopf“, die Melodien nahezu vollständig, teilweise sogar noch die meisten Strophen.


Die weitaus meisten „Komponisten der Bewegung“ (und auch die Textautoren) waren in ihren zwanziger Lebensjahren, höchstens um die dreißig und schufen ihre opera in einem gewissen von viel Pathos bestimmten Aufbruchs-Rausch, zumindest in einem von Ulrich Günther treffend benannten „Erlebniszusammenhang, also unreflektiert-funktional“.


Hier ein paar Geburtsdaten: Georg Blumensaat (geb. 1901), Heinrich Spitta (1902), Fritz Sotke (1902), Reinhold Heyden (1904), Herbert Hagemeister (1905), Werner Altendorf (1906; Reichstagsabgeordneter der NSDAP), Herbert Napiersky (1911), Hans Baumann (1914). Sie waren von jugendlicher Begeisterungsfähigkeit und konnten auch Begeisterung entfachen.


Musikalisch bestimmend sind zumindest drei unterschiedliche Prägungen, manchmal miteinander verknüpft: Da ist einmal das choralähnliche, hymnisch „getragene“ Lied, das eine säkular-liturgische „Anbetungshaltung“ für Feierstimmungen suggeriert. Als Beispiele seien genannt Blumensaats Deutschland, heiliges Wort, Spittas Heilig Vaterland und Baumanns Hohe Nacht der klaren Sterne. Zum anderen ist es das herbe, trutzige Kampflied, oft in Moll gehalten und von punktierten Rhythmen durchsetzt: Volk will zu Volk von Paul Dorscht oder Arno Parduns Volk ans Gewehr. Bei Jugendlichen am beliebtesten war die dritte Kategorie: das schwungvoll-mitreißende, Individuen zusammenschließende Marschlied. Altendorfs Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit, das betont rhythmisch und durch markige Quartsprünge gekennzeichnet ist. Als weiteres Beispiel sei genannt Hans-Otto Borgmanns Vorwärts schmettern die hellen Fanfaren, mit dem Text Baldur v. Schirachs, aus dem UFA-Film Hitlerjunge Quex. Hier ist die melodische Textausdeutung besonders sinnfällig: das Vorwärtsdrängende wird ebenso durch stampfende Quartfolgen (wie auch in Hitlers Lieblingsmarsch Badenweiler!) wie durch Fanfaren-Imitation unterstrichen. Die genannten Beispiele sind in vielen Liederbüchern zu finden, so im Bremer Liederbuch von 1937 und in Lied über Deutschland.38

38 Bremer Liederbuch, Teil II, hg. von Oskar Zweibarth, Bremen: Geist Verlag 1937; Lied über Deutschland. Gesammelt von Georg Blumensaat, 5. Aufl., Potsdam: Voggenreiter 1941.


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