3. „Deutschland, erwache! Juda den Tod!“ Schlaglichter auf das Liedrepertoire und dessen Realisierung
Jedes Lied ist eine melodiebestimmte Verlebendigung sprachlicher Aussage und Transportmittel für eine „Botschaft“ mit potentieller Langzeitwirkung. Durch Lieder werden Singende und Hörer in erster Linie emotional angesprochen. Durch Auswendiglernen und Singen werden Lieder in Menschen „eingeschleust“, dort deponiert und bei Bedarf von außen oder innen abgerufen. Der Mensch „gehorcht“, nachdem er „ge-horcht“ hat. Eine intensive Verhaltenssteuerung erfolgt stets über das Ohr. Man „hört zu“ oder nicht; man ist „hörig“ oder nicht oder auch „ungehörig“; man „gehört dazu“ oder nicht. Lieder erzeugen leicht ein „Wir-Gefühl“, „schweißen zusammen“ zu einer Formation, leiblich und geistig, besonders beim synchron vorgenommenen Marschieren und bei gemeinsamen Feiern.35
Das Musikbuch Deutsche Musik in der Höheren Schule von 194136
Da Singen in der Regel mit sinnlichem Wohlbehagen verbunden ist, droht es die Reflexion zu lähmen. So können psychische Dispositionen geschaffen werden, die zu bewußtlosem Handeln führen. Politische Lieder sind dazu besonders geeignet: eine Argumentation findet nicht statt, keine differenzierende Darlegung, sondern pauschale, plakativ vorgenommene Verkündigung, Indoktrination. So wird auf rein emotionale Weise ein Einverständnis erzwungen oder zumindest suggeriert.
Der Nationalsozialismus hat sich diese Faktoren in reichem Maße zu Nutze gemacht. Ulrich Günther (Jahrgang 1923) ergeht es heute wie vielen anderen auch: er ist erstaunt, wieviele der damaligen Lieder ihm bei der wissenschaftlichen Wiederbegegnung aus den verschütteten Tiefen des Gedächtnisses wieder ans Licht kommen.
|